Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Regionale Integration und Industrialisierung in Afrika

Artikel-Nr.: DE20210901-Art.25.09-2021

Regionale Integration und Industrialisierung in Afrika

Ein Teufelskreis?


Die vergleichsweise hohen Wachstumsraten vieler afrikanischer Länder überdecken die strukturellen Entwicklungsprobleme des Kontinents. Dies ist die Ausgangsthese eines neuen Buchs des Afrika-Ökonomen Helmut Asche (siehe Hinweis). Ein wichtiger Faktor ist dabei der geringe Grad der handels- und wirtschaftspolitischen Integration des Kontinents – die meisten afrikanischen Länder handeln mehr mit entfernten außerafrikanischen Regionen als mit den Nachbarländern. Von Jörg Goldberg.

Fehlende Industrialisierung und geringe handelspolitische Integration bilden einen Teufelskreis: „Industrialisierung ist nur möglich im Rahmen integrierter Regionen, diese aber benötigen eine wirksame industrielle Arbeitsteilung.“ (275) Ohne regionale Integration keine Industrie, ohne Industrie keine regionale Integration – so beschreibt Asche die entwicklungspolitische Zwickmühle, in der Afrika steckt.

Ernüchterndes Bild

Die wenig ermutigende Zustandsbeschreibung ist empirisch gut abgesichert. Im ersten Teil des Buchs skizziert der Autor den aktuellen Stand der regionalen Integrationsbemühungen. Im zweiten Teil werden Ansätze und Bedingung einer regionalen Industriepolitik entwickelt. Der dritte Teil untersucht den Einfluss der Nord-Süd-Handelsabkommen auf den afrikanischen Integrationsprozess. Das Buch ist klar strukturiert, die 13 Kapitel werden eingeleitet durch kurze Zusammenfassungen. Zentrale Schlussfolgerungen präsentiert das 14. Kapitel. Der Autor zieht oft einschlägige Integrationserfahrungen der Europäischen Union heran.  

Die im ersten Teil detailliert und unter kritischer Einbeziehung der neuesten wissenschaftlichen Positionen dargestellten Integrationserfahrungen analysieren die wichtigsten regionalen Integrationsgemeinschaften in Afrika. Diese bieten auf den ersten Blick ein verwirrendes Bild. Viele regionale Integrationszonen überschneiden sich und präsentieren einen Wirrwarr von internen Zolltarifen (43).

Asches Darstellung ist nicht einfach zu lesen, sie bietet dem Leser aber gleichzeitig ein gedrängtes Weiterbildungsprogramm auf dem komplizierten Gebiet der wirtschaftlichen Integration. Die Darstellung der handels- und wirtschaftspolitischen Verflechtungen des Kontinents und der einzelnen regionalen Integrationszonen ergibt ein differenziertes, aber doch insgesamt ernüchterndes Bild: Afrika ist nach wie vor der Kontinent mit der geringsten internen handelspolitischen Verflechtung. Schlimmer: Der Grad der Integration innerhalb der untersuchten regionalen Gemeinschaften hat in den letzten Jahrzehnten kaum zugenommen. Das Gesamtbild sei „bestenfalls mehrdeutig“, fasst der Autor zusammen (48). Ein Kapitel ist der Initiative für die Schaffung einer afrikanischen Freihandelszone gewidmet, die der Autor differenziert, aber doch mit einer gewissen Skepsis beurteilt: Kann diese ein entwicklungspolitischer „game changer“ für Afrika werden? Die Frage bleibt offen.

● Mangelnde Legitimität ‚nationaler‘ Regierungen

Im zweiten, dem interessantesten und innovativsten Teil des Buches, untersucht der Autor Ansätze regionaler Industriepolitiken und diskutiert die „essentials“ gemeinsamer industriepolitischer Konzepte in den regionalen Integrationsgemeinschaften. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis: „Ohne diversifizierte verarbeitende Industrien und wirksame industriepolitische Anstrengungen werden sich regionale Gemeinschaften früher oder später auflösen.“ (122) Angesichts der kleinen ‚nationalen‘ Märkte der afrikanischen Länder (Ausnahmen sind Nigeria und Südafrika) haben nationale industriepolitische Bemühungen keine wirkliche Perspektive – notwendig sind gemeinsame regionale Konzepte. Angesichts verbreiteter nationaler Egoismen ist eine gemeinsame regionale Industriepolitik, die sich nicht in der Verteidigung alter Industrien erschöpft, ein kompliziertes, aber nicht unmögliches Unterfangen.

Kritisch anzumerken ist in diesem Punkt, dass der Autor sich mit der Frage, wer die politischen Träger und Akteure einer gemeinsamen ‚supranationalen‘ Politik sein könnten, nur oberflächlich beschäftigt (176 ff.). Die Frage nach der demokratischen Legitimation und den politischen Triebkräften supranationaler Maßnahmen wird nicht explizit gestellt, obwohl dies ein Grundproblem der europäischen Integration darstellt, auf die sich der Autor immer wieder bezieht.

Angesichts der oft nur geringen Legitimation der ‚nationalen‘ Regierungen könnte Afrika hier sogar einen gewissen Vorteil haben: Immerhin weist Asche in der aufschlussreichen Zusammenfassung der „Hauptelemente eines im Entstehen begriffenen Konsenses über eine moderne Industriepolitik“ darauf hin, dass regionale Industriestrategien mit dem „Aufbau regionaler Identitäten“ verbunden sein könnten (186/7): Während in Europa der Nationalstaat der bestimmende Rahmen demokratischer Prozesse ist, gilt dies in Afrika nicht in dieser Absolutheit: Lokale, regionale und panafrikanische Identitäten überlagern sich und könnten als Anknüpfungspunkte für supranationale politische Ansätze dienen. Die erwähnte Initiative für eine afrikanische Freihandelszone könnte zur Stärkung einer ‚afrikanischen Identität‘ beitragen. Die Tatsache, dass die bestehenden regionalen Kooperationsräume oft mit einer Erleichterung des freien Personenverkehrs verbunden sind (113), steigert die Attraktivität regionaler Politikansätze.

● Das Teile-und-Herrsche der Nord-Süd-Kooperation

Im dritten Teil befasst sich der Autor mit dem Verhältnis zwischen Nord-Süd-Kooperationen einerseits und dem innerafrikanischen Integrationsprozess andererseits: Afrikanischen Regionen werden auf Druck aus dem ‚Norden‘ dazu gezwungen, ihre externen Zolltarife zu senken, so dass die internen Tarife relativ dazu steigen (89), wodurch innerafrikanischer Warenaustausch beschädigt wird.

Im elften Kapitel skizziert Asche die Entwicklung der EU-Afrika-Handelsabkommen mit Fokus auf die Europäischen Partnerschaftsabkommen (EPA), eine Darstellung, die einen eigenständigen Wert hat. Sein Urteil ist überraschend eindeutig: Die 52 Handelsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten, deren sich die EU-Kommission rühmt, ergeben in Wirklichkeit „das Bild eines zerstückelten Kontinents“ (205). Die Abkommen mit der EU behindern die regionale Integration in Afrika und beschränken den politischen Spielraum für eigenständige industriepolitische Aktivitäten. Asche nimmt damit explizit seine skeptisch-positive Bewertung der EPA-Verhandlungen aus dem Jahre 2015 zurück (vgl. W&E 02/2016): „Die EPAs stellen gegenwärtig in der Tat eine Gefahr für die regionale Integration in Afrika dar… Heute könnten die EPAs tatsächlich als eine Art zweiter Berlin-Konferenz gelten, was prominente Kritiker … angesichts der ‚Teile- und-Herrsche-Strategie‘ der EU-Kommission schon immer gefürchtet hatten.“ (260) Dies lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig.

Insgesamt ist das Buch zwar keine einfache Lektüre, es kann aber dazu beitragen, die in unfruchtbaren Gegenüberstellungen von Afrika als Katastrophen-  oder Chancenkontinent befangenen Debatten auf eine neue Grundlage zu stellen. Abschließend seien zwei ‚formale‘ Aspekte erwähnt: Das Buch ist in englischer Sprache verfasst, was eine Aufnahme durch die internationale Fachdiskussion ermöglicht, die Wirkung in Deutschland aber begrenzt. Deutschsprachige Wissenschaftler, die über gute theoretische und praktische Kenntnisse afrikanischer Entwicklungen verfügen, sind rar. Eine deutsche Fassung des Buches bzw. seiner wichtigsten Aspekte wäre wünschenswert. Außerdem ist der Preis mit über 85 (eBook) bzw. 107 Euro (hardcover) prohibitiv hoch.

Hinweis:
* Helmut Asche: Regional Integration, Trade and Industry in Africa, 317 pp. Springer International Publishing: Basel 2021. Bezug: Buchhandel