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Assoziierung Teil des Problems, nicht der Lösung

Artikel-Nr.: DE20140325-Art.09-2014

Assoziierung Teil des Problems, nicht der Lösung

Die EU-Strategie im Ukrainekonflikt

Vorab im Web - Die EU preist das umstrittene Assoziationsabkommen mit der Ukraine als Beitrag zur Stabilisierung des Landes und als Weg aus dessen wirtschaftlicher Misere. Am 21. März unterzeichneten die EU und die Ukraine den politischen Teil des Abkommens. Außerdem gewährte die EU übergangsweise Handelserleichterungen für ukrainische Exporte. Das volle Abkommen soll nun nach den ukrainischen Wahlen Ende Mai in Kraft treten. Entgegen den Beteuerungen der EU verschärft das Abkommen die Spannungen in der Ukraine wie deren wirtschaftlichen Probleme, zeigt Joachim Becker.

Die Assoziationsabkommen, welche die EU im postsowjetischen Raum vorantreibt, sind ein Schlüsselelement bei der Ausweitung der EU-Einfluss-Sphäre nach Osten. Georgien und Moldawien, wo das Abkommen ebenfalls stark umstritten ist, paraphierten Assoziationsabkommen Ende November 2013 in Vilnius. Armenien lehnte im Vorfeld des Gipfels von Vilnius die Unterzeichnung eines solchen Abkommens ab. Und in der Ukraine löste es massive Konflikte aus.

● Geoökonomie und Geopolitik

Die geo-ökonomische und geo-politische Stoßrichtung der Abkommen wird im Fall der Ukraine besonders augenfällig. Weit über die Handelsliberalisierung hinausgehend, soll die Ukraine teilweise in den EU-Binnenmarkt integriert werden. Das würde bedeuten, dass die Ukraine substanzielle Teile der Wirtschaftsgesetzgebung der EU übernimmt. Die Ukraine würde nicht nur Möglichkeiten des Außenschutzes für die nationale Ökonomie verlieren, sondern auch Schlüsseloptionen für die nationalstaatliche Industriepolitik (z.B. über öffentliche Ausschreibungen).

Als bisher erstes Freihandelsabkommen würde das Abkommen mit der Ukraine auch die handelsbezogene Energiepolitik betreffen. Dies ist innen- wie außenpolitisch ein besonders heikler Punkt. Innenpolitisch, weil das Abkommen den Abbau der hohen Preissubventionen beinhaltet, was die verarmte Bevölkerung in der Ukraine stark treffen würde. Außenpolitisch, weil es um den Transit von russischen Gas geht. Nicht nur das Assoziationsabkommen mit der Ukraine, sondern auch jene mit den anderen postsowjetischen Staaten stehen in Konkurrenz mit dem russischen Projekt einer Eurasischen Union.

● Die Ukraine zwischen der EU und Russland

Die EU stellt die Nachfolgestaaten der Sowjetunion vor die Wahl zwischen vertieften Beziehungen mit der EU oder Russland. Für die Ukraine sind allerdings die wirtschaftlichen Beziehungen mit beiden essenziell. Die EU und Russland sind die wichtigsten Handelspartner. Auf die EU entfielen 2012 33,7%, auf Russland 21,6% des ukrainischen Außenhandels. Als Exportmärkte sind beide für die Ukraine ungefähr genauso wichtig, sie nehmen etwa je ein Viertel der ukrainischen Ausfuhr auf. Bei der Einfuhr in die Ukraine hat die EU mit einem Anteil von 40,7% das mengenmäßige Übergewicht gegenüber Russland mit 19,6%. Allerdings stammt ein Großteil der ukrainischen Energieimporte aus Russland – und von diesen hängt die ukrainische Wirtschaft, gerade auch die energieintensive Schwerindustrie im Osten des Landes, essenziell ab. Substanzielle Arbeitsmigration aus der Ukraine gibt es sowohl in die EU-Länder, als auch nach Russland.

Im Vorfeld der ursprünglich für November 2013 geplanten Unterzeichnung des Assoziationsabkommens führte die russische Regierung der Ukraine ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von ihrem nordöstlichen Nachbarn drastisch vor Augen, bot aber auch Linderung für die akute wirtschaftliche Notlage, die sich einem hohen Leistungsbilanzdefizit und hohen Zahlungsverpflichtungen für die Auslandsschulden gegenübersieht.

Angesichts der mehr als prekären außenwirtschaftlichen Situation und der hohen, unmittelbar anfallenden Kosten für die Umsetzung des Abkommens entschloss sich die Regierung Janukowytsch dazu, das fertig ausgehandelte Abkommen doch nicht zu unterzeichnen. Diese Entscheidung war hochgradig kontrovers. Die ukrainische Bevölkerung ist in ihrer Orientierung auf die EU bzw. Russland in zwei große Blöcke geteilt. Die Orientierung auf die EU ist speziell in Teilen des nationalistischen Milieus der Westukraine stark ausgeprägt.

Die Abkehr Janukowytschs vom Assoziationsabkommen setzte eine Kette sozialer Proteste in Gang, die letztlich im Sturz der Regierung Janukowytsch und ihrer Ersetzung durch eine pro-westliche Koalition aus nationalliberalen und faschistischen Kräften mündete. Die neue Regierung, die viel mehr als die – fälschlich oft als pro-russisch eingestufte – Janukowytsch-Regierung nach Geschmack der EU ist, sieht sich allerdings demselben außenwirtschaftlichen Dilemma gegenüber wie ihre Vorgängerin.

Eintrittskarte zu vertiefter Unterentwicklung

Eine „tiefe und umfassende“ Freihandelszone ist Kernbestandteil des Abkommens. Für die Ukraine dürfte „vertiefter“ Freihandel und die Übernahme von Kernbestandteilen der EU-Wirtschaftsgesetzgebung allerdings auf eine Vertiefung der De-Industrialisierung und vertiefte Abhängigkeitsstrukturen hinauslaufen. Der wirtschaftliche Entwicklungsabstand zwischen EU und Ukraine ist eklatant. Zu Kaufkraftparitäten machte deren BIP pro Kopf 2012 gerade einmal 23% des EU-Niveaus aus. Auch der Vergleich mit der Vergangenheit fällt für die Ukraine katastrophal aus: 2012 erreichte das ukrainische BIP reale gerade einmal 69,3% des Niveaus von 1990. Die kapitalistische Transformation zog eine starke Zerstörung industrieller Produktionskapazitäten nach sich.

Die Entwicklungsunterschiede spiegeln sich bereits heute in sehr asymmetrischen Handelsbeziehungen wider. 2012 bestanden die EU-Importe aus der Ukraine zu 52% zu Primärgütern (mineralische Rohstoffe, Agrarprodukte), während der EU-Export in das osteuropäische Land völlig von Industriegütern dominiert wird. Diese bilaterale Außenhandelsstruktur ist höchst unvorteilhaft für die Ukraine. Diese weist im Handel mit der EU ein enormes Defizit auf. Exporte deckten 2012 nur 61,3% der Importrechnung mit der EU ab.

Die im Abkommen vorgesehene Handelsliberalisierung würde diese Asymmetrien absehbar weiter verstärken. Für die Schwerindustrie der Ostukraine, deren Interessen durch die Janukowytsch-Regierung vornehmlich vertreten wurden, war dies keine Sorge. Ihr ging es vorrangig um die Erleichterung der eigenen Westexpansion. Andere Branchen würden sich hingegen massiven Problemen gegenübersehen. Diese wären Teil der „kurzfristigen Härten“, die auch Parteigänger des Abkommens einräumen.

Allerdings wären diese Härten nicht nur kurzfristig, da De-Industrialisierung auch langfristige Folgen hat. In der Ukraine wurden diese Fragen kaum diskutiert. Relativ kurz vor dem ursprünglich vorgesehen Termin der Abkommensunterzeichnung äußerten einige Unternehmerkreise, aber auch Gewerkschafter, Sorge über die wirtschaftlichen Folgen des Abkommens. Diese gingen im geo-politischen Tauziehen, das folgte, völlig unter.

● Negativmodell West-Balkan

Die EU-Politik gegenüber dem sog. West-Balkan, also dem postjugoslawischen Raum, wird immer wieder als Erfolgsgeschichte und ein mögliches wirtschaftliches Modell für die Ukraine gepriesen. Hierbei wird allerdings übersehen, dass die EU und einige ihrer Kernmitglieder, vor allem Deutschland, zum chaotischen und gewaltsamen Zerfallsprozess Jugoslawiens beigetragen haben. Im Fall der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, der bislang letzten Etappe dieses Zerfallsprozesses, ermunterten die EU und einige ihrer Kernmitglieder die Loslösung von Serbien – und Russland vertrat die gegenteilige Position (während im Fall der Krim nun beide Seiten das völlige Gegenteil ihrer Position zum Kosovo einnehmen).

Die EU-Wiederaufbau- und Assoziationspolitik in der Region hat zwar zur Wiederherstellung der Infrastrukturpolitik beigetragen, nicht aber zur Stärkung der industriellen Strukturen. Im Vorfeld der aktuellen Krise erreichte Kroatien 90% und Serbien 50% der industriellen Produktion des Jahres 1990. In Bosnien-Herzegowina, wo der Einfluss der EU auf die Wirtschaftspolitik besonders direkt ist, stellt sich die Wirtschaftslage besonders katastrophal dar. Das BIP pro Kopf erreichte 2012 zu Kaufkraftparitäten gerade einmal 26% des Niveaus der EU-27, die Arbeitslosenrate belief sich hingegen auf 28%. Gegen die katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage richteten sich die starken Sozialproteste in Bosnien-Herzegowina, die etwa zur selben Zeit explodierten wie in der Ukraine.

Sowohl in der Ukraine als auch in Bosnien-Herzegowina richteten sich die Proteste zum Teil gegen die engen Bindungen zwischen den etablierten Parteien und den lokalen Oligarchen. Obwohl das Regime in der Ukraine gewechselt hat, sind die engen Bindungen zu den Oligarchen (wenn auch z.T. zu anderen Gruppen) geblieben. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass die geo-politische Konfrontation die sozio-ökonomischen Fragen in der Ukraine (zumindest zeitweilig) völlig in den Hintergrund rücken wird.

In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens hat der Zerfallsprozess zur Konsolidierung oligarchischer Strukturen beigetragen. Einige Parallelen der inneren Entwicklung der derzeitigen Ukraine zur Frühphase des akuten Zerfallsprozesses Jugoslawiens sind erkennbar. Paramilitärische Gruppen – mit rechtsextremem Hintergrund – haben bei den Protesten eine sichtbare Rolle gespielt. In Teilen der Ukraine errichtete beispielsweise der Prawy-Sektor eigene Kontrollpunkte auf den Straßen. Die Gründung einer Nationalgarde könnte auf die Bildung einer politisch loyalen Streitmacht – parallel zu konventionellem Militär – hinauslaufen. Die Sprachfrage wird stark politisiert. Der erste Staatschef der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk, beklagte kürzlich die durch starken Hass geprägte Polarisierung des Landes und die fehlende reale Autorität der Regierung.

Innere und äußere Kräfte wirken in der Ukraine zentrifugal. Wäre der EU tatsächlich an einer Stabilisierung des Landes gelegen, würde sie auf das Assoziationsabkommen in der vorgesehen Form verzichten und sich auf ein politisch tiefer gehängtes Kooperationsabkommen beschränken, das Kompromiss-Spielräume in der Ukraine schaffen könnte. Doch scheinen die realen Prioritäten der EU andere zu sein.

Dr. Joachim Becker ist a.o. Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Empfohlene Zitierweise:
Joachim Becker, Assoziierung Teil des Problems, nicht der Lösung. Die EU-Strategie im Ukrainekonflikt, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 25. März 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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