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Bolsonaro als Anti-Gender-Kreuzritter

Artikel-Nr.: DE20181107-Art.19-2018

Bolsonaro als Anti-Gender-Kreuzritter

Rechtsruck in Brasilien

Brasilien hat gerade Jair Bolsonaro zu seinem nächsten Präsidenten gewählt – einen Mann, der national und international weit bekannt ist für seinen Frauenhass und seine Homophobie. Obwohl seine Rhetorik gegen Frauen, die LGBTQI-Gemeinschaft und Minderheiten zunehmend obszön wurde, behinderte dies in keiner Weise seine politische Karriere. Tatsächlich scheint ihm dies sogar genutzt zu haben, schreiben Mariana Prandini Assis und Ana Carolina Ogando.

Während einer parlamentarischen Debatte 2014 sagte Bolsonario zu der Abgeordneten Maria do Rosario, dass er sie nicht vergewaltigen würde, weil sie dessen „nicht wert sei“. Im gleichen Jahr schlug er in einem TV-Interview vor, einem Sohn, der Anzeichen zeigte, dass er schwul sei, eine Tracht Prügel zu verpassen; dies sei der beste Weg für die Eltern, sein Verhalten zu ändern und sicherzustellen, dass er als „richtiger Mann“ aufwachse. 2017 behauptete er, dass es ein Zeichen von „Schwäche“ sei, wenn nach vier Söhnen eine Tochter geboren würde.

● Was ist „Gender-Ideologie“?

Mit diesen empörenden Äußerungen in der Öffentlichkeit zielte Bolsonaro darauf ab, sich strategisch als Schlüsselfigur in dem sog. „Krieg gegen Gender-Ideologie“ zu positionieren. Das verhalf ihm zu Popularität und schließlich zur Präsidentschaft. Jetzt wird er sich wahrscheinlich bei den reaktionären Kräften, die zu seinem politischen Erfolg beitrugen, revanchieren und sie in ihrem Krieg gegen fortschrittlichen Gender-Aktivismus in Brasilien stärken.

Der Begriff „Gender-Ideologie“ hat keine akademische oder theoretische Grundlage oder gar eine klare und kohärente Definition. In konservativ-religiösen Kreisen wird er benutzt, um vage Politiken oder Aktivitäten herabzusetzen, die darauf abzielen, die Geschlechtergleichheit zu erhöhen und die Rechte der Frauen und der LGBTQI-Gemeinschaft hochzuhalten. Er hat seine Wurzeln in der Antwort der Katholischen Kirche und einer Reihe einflussreicher konservativer Kräfte auf den Fortschritt, der an dieser Front auf der Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung von 1994 in Kairo und der Weltfrauenkonferenz von 1995 erzielt wurde.

Die Idee einer „Gender“-Verschwörung und einer Agenda zur Unterminierung von Familie und religiösen Werten sowie zur Förderung von Immoralität verbreitete sich nach der Mitte der 1990er Jahre schnell auf der ganzen Welt. Nachdem die „Pinkwelle“ in Lateinamerika, d.h. die Linksentwicklung, während der letzten fünf Jahre abebbte, verbreitete sich der „Feldzug“ gegen die „Gender-Ideologie“ über die ganze Region. Gefördert wurde dies durch das Wiedererstarken der konservativen Opposition und den Aufstieg pfingstkirchlicher und neo-pfingstkirchlicher Gruppen.

● Bolsonaro und die Evangelikalen

In Brasilien war die rechtliche Anerkennung homosexueller bzw. gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften durch den Obersten Gerichtshof 2011 der Wendepunkt für die „Anti-Gender-Kreuzritter“. Es war im Gefolge dieser grundlegenden Entscheidung, dass die Hysterie um die „Gender-Ideologie“ an Schwung und Sichtbarkeit gewann.

Seither hat der evangelikale Block im Parlament, eine Schlüsselkraft hinter Bolsonaros erfolgreicher Kandidatur, systematisch versucht, die Ausweitung sexueller Rechte zu verhindern, darunter die gleichgeschlechtliche Ehe und reproduktive Rechte sowie insbesondere das Recht auf Abtreibung. Die Evangelikalen haben regelmäßig Gesetzesvorschläge eingebracht, einschließlich Gesetzesentwürfe zur Anerkennung des „Rechts“ des ungeborenen Kindes, zur Definition der Familie als einer Einheit, die aus Mann, Frau und deren Kindern besteht, und zur Kriminalisierung der Abtreibung selbst im Falle von Vergewaltigung.

Wenn auch keiner dieser Entwürfe angenommen wurde, so gaben sie dem evangelikalen Block doch die Möglichkeit, sich als die Verteidiger der traditionellen Werte der Familie und des Christentums zu vermarkten und die öffentliche Kontroverse anzuheizen. Auf diese Weise setzte sich nach und nach die Idee in der öffentlichen Meinung fest, dass die Werte der brasilianischen Gesellschaft tatsächlich „bedroht“ seien und zu ihrer Rettung ein Krieg gegen die subversive und unmoralische „Gender-Ideologie“ geführt werden müsse.

Auch Bolsonaros eigene Karriere als „Anti-Gender-Kreuzritter“ begann 2011. Damals wie heute hat Brasilien eine alarmierende Rate von gewaltsamen Toden zu beklagen, die im Zusammenhang mit Homophobie stehen. 2017 wurden mindestens 445 LGBTQI-Tote berichtet, 30% mehr als 2016. In diesem Kontext startete der damalige Bildungsminister Fernando Haddad (zuletzt Bolsonaros Gegenkandidat) 2011 eine Initiative zur Verbreitung von Bildungsmaterial in den Schulen, um Homophobie und Diskriminierung zu bekämpfen.

Bolsonaro nannte das Material ein „Schwulen-Kit“ und erklärte es zu einer direkten Bedrohung für die „natürliche“ Zweigeschlechtlichkeit, die Kinder und die brasilianische Familie. Er führte eine öffentliche Kampagne, die die öffentliche Meinung erfolgreich gegen die Maßnahme aufbrachte und schließlich die Präsidentin Dilma Rousseff dazu zwang, ihr Veto gegen diese Materialien einzulegen.

Männer-Hegemonie und Gewalt

Einen Höhepunkt erreichte der Kreuzzug gegen „Gender-Ideologie“ mit dem, was viele als parlamentarischen Putsch von 2016 gegen die Arbeiterpartei (PT) ansehen. Während viele Faktoren und politische Interessen bei dem Impeachment gegen Dilma im Spiel waren, spielte der reaktionäre Diskurs zu Gender und Sexualität eine wichtige Rolle bei der Aktivierung popularer Unterstützung.

Die öffentliche Rhetorik der Opposition mit ihrer Frauenfeindlichkeit, Lächerlichmachung und ihren Appellen an die traditionellen Familienwerte wirkten wie Hetze gegen die erste Präsidentin Brasiliens und bereiteten den Weg für die Rückkehr zu weißer, männlicher, sexistischer und autoritärer Politik. Bolsonaro nahm natürlich aktiv an der ganzen Charade teil, bis hin zu dem berühmten Vorfall, in dem er seine Stimme für die Absetzung Dilmas Oberst Brilhante Ustra widmete, dem Anführer der gefürchteten Doi-Codi-Folter-Einheit. Dies kam einer Verhöhnung der ehemaligen Präsidentin gleich, die selbst unter der Folter der brasilianischen Militärdiktatur gelitten hatte. Die Botschaft, die Bolsonaro und seine Verbündeten 2016 lieferten, war klar: Frauen und LGBTQIs sind in der Politik nicht willkommen, genauso wenig wie die Förderung von Gender- und sexueller Gerechtigkeit.

Dann, 2018, während seiner Wahlkampagne, verkörperte und pries Bolsonaro nicht nur diese hegemoniale Form der Männlichkeit, sondern präsentierte sich selbst als einen Kreuzritter gegen „Gender-Ideologie“. „Anti-Gender“-Rhetorik wurde auch ausgiebig in der Fake-News-Kampagne genutzt, die auf die Herabsetzung seines Opponenten zielte. Eine Fake-Geschichte, die über WhatsApp verbreitet wurde, behauptete, Haddad versorge Schulen mit erotischen Babyflaschen aus öffentlichen Kinderbetreuungszentren. Eine andere behauptete, seine Vizekandidaten Manuela D’Avila sei eine Atheistin, die religiöse Symbole schände.

● Wenn Rhetorik in Gewalt umschlägt

Die Auswirkungen von Bosonaros Kreuzzug gegen „Gender-Ideologie“ waren nicht nur auf die brasilianische Politik beschränkt, sondern erstreckten sich auch auf die Straßen, wo die von seinen Unterstützern initiierte Gewalt eskalierte. Während dieser polarisierten Wahlkampagne wuchs die genderbezogene und rassistische Gewalt beträchtlich an. Über 50 gewalttätige Aktionen von Bolsonaro-Unterstützern wurden registriert, wobei viele Opfer Frauen, Schwarze und LGBTQIs waren.

In seiner Rede nach dem Wahlsieg sagte Bolsonaro, seine Kampagne habe auf der Bibel basiert, „der Anleitung zur Reparatur von Mann und Frau“ – eine klare Demonstration, dass er denselben Weg fortsetzen wird, den er in den letzten paar Jahren gegangen war – nur dass er jetzt die Macht zur Umsetzung all dessen hat, woran er glaubt. Sein Aufstieg zur Macht hat die brutalste Seite des Kreuzzugs gegen „Gender-Ideologie“ enthüllt, indem er über die institutionellen Zwänge der Politik hinausging, und zwar bis zu dem Punkt, an dem die feindselige öffentliche Rhetorik gegen politische „Feinde“ in ihre physische Auslöschung umschlägt.

Unsere einzige Chance auf Fortschritt ist es zusammenzukommen und uns dieser steigenden Woge genderbezogener und rassistischer Gewalt als vereinte Front der demokratischen Kräfte entgegenzustellen. Wenn wir dabei scheitern, riskieren wir, weiteren Boden an Bolsonaros gefährliche und entmenschlichende Rhetorik und noch mehr unschuldige Leben zu verlieren.

Mariana Prandini Assis ist Menschenrechtsanwältin und PhD-Kandidatin für Politik an der New School for Social Research. Ana Carolina Ogando ist selbständige Forscherin in Brasilien. In englischer Version erschien ihr Text bei Aljazeera.

Posted: 7.11.2018

Empfohlene Zitierweise:
Mariana Prandini Assis/Ana Carolina Ogando: Bolsonaro als Anti-Gender-Kreuzritter. Rechtsruck in Brasilien, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 7. November 2018 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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