Der Fachinformationsdienst für Globalisierung, Nord-Süd-Politik und internationale Ökologie
en

Was suchen Sie?

Das Europäische Paket und die Europäische Krise

Artikel-Nr.: DE20111028-Art.54-2011

Das Europäische Paket und die Europäische Krise

Ein Etappenerfolg - nicht mehr

Web-Langfassung - In der Nacht vom 26. zum 27. Oktober haben sich die Regierungen der EU-Länder auf ein Paket gegen die sog. Euro-Schuldenkrise geeinigt. Die Einigung ist ein Etappenerfolg, aber die wichtigen Probleme – die Handelsungleichgewichte und die oligopolistische, undemokratische Machtballung auf den Finanzmärkten – bleiben bestehen. Die Europäische Krise selbst ist allerdings nicht vornehmlich finanzwirtschaftlicher, sondern politischer Natur, analysiert Oliver Schmidt.

In den Jahren 2008/2009 hatten die westlichen Regierungen ihre Budget-Defizite (jährliche Neuverschuldung) schnell erhöht, um der durch das Schattenbankensystem verursachten Finanzkrise und der folgenden realwirtschaftlichen Rezession entgegenzuwirken. In einem Interview in jener Zeit sagte Nobelpreisträger Paul Krugman ein Jahrzehnt niedrigen, unstetigen, krisenanfälligen Wachstums voraus. Demnach wären wir jetzt gerade mal im dritten Jahr dieses Jahrzehnts.

* Ausgangspunkt globale Finanzkrise

Die Probleme der öffentliche Verschuldung in den USA und in Europa heute sind zuerst und vor allem ein Ergebnis der Jahre 2008/2009; direkt, durch die rasche Ausweitung der öffentlichen Verschuldung in jenen Jahren, und indirekt, durch das stark reduzierte und schwankungsreichere Wachstumsniveau, welches durch die Finanzkrise verursacht wurde.

Die Schuldenpolitik der USA und der europäischen Länder variiert erheblich. Der zweite Bush übernahm von Bill Clinton einen Haushaltsüberschuss, den er u.a. durch gigantische Kriegskosten in eine gewaltige Verschuldung verwandelte. In Europa dominierten für eine Weile die Stabilitätskriterien – vor allem 3% des BIP als Grenze der Neuverschuldung und 60% beim Schuldenstand – die politische Diskussion und schienen eine ‘teutonische Stabilitätskultur’ verbreitet zu haben. Die nach Vorbild der Deutschen Bundesbank modellierte EZB schien diesen normativen Trend zu verkörpern. Es wurde übersehen, dass in jenen Jahren Haushalte und Unternehmen – nicht so sehr die Regierungen – in den südlichen Ländern die Früchte dieser teutonischen Stabilitätskultur ernteten, indem sie die neuen billigen (Euro-)Kreditmöglichkeiten wahrnahmen.

Das Europäische Paket in Zahlen

50%Freiwilliger Forderungsverzicht der Banken gegenüber Griechenland
1000 Mrd. €Hebelung des EFSF, ausgehend von derzeit 250 Mrd. € Feuerkraft
130 Mrd. €Neues Rettungspaket für Griechenland (ersetzt das Juli-Paket von 109 Mrd. €)
106 Mrd. €Geplante Rekapitalisierung der Banken
Quelle: W&E-Zusammenstellung

Dieses ‘Übersehen’ hatte verschiedenen Gründe. Zunächst einmal gibt es im politischen System kein Amt, das dafür zuständig ist. Die Zentralbanken waren in jenen Jahren mit einer theoretischen Diskussion darüber befasst, wie sie mit ‘Asset-Blasen’, z. B. dem Bau von mehr Immobilien als genutzt werden können, umgehen sollten. Es ist klar, das billiges Geld – in den USA als Greenspan’sches Führungskonzept verfolgt, im südlichen Europa durch die euro-ermöglichten niedrigeren Zinsen als Nebeneffekt der Währungsunion – eine Ursache dieser Blasen ist. Es ist nach 2008/09 auch klar, dass man diese Blasen besser nicht zugelassen hätte. Aber z.B. für die EZB wäre es kaum möglich gewesen, ‘die Luft rauszulassen’, ohne in anderen Teilen der Währungsunion, z. B. Deutschland, schmerzhafte Wachstumseinbussen zu verursachen.

Die Regierungen hätten fiskalpolitisch gegensteuern können, aber an ‘beiden Enden’ wäre das unbequem gewesen: Südeuropäische Regierungen genossen den Wirtschaftsboom, und zentraleuropäische Regierungen kämpften mit den politischen Folgen von Arbeitsmarkt- und Sozialsystemreformen (in Deutschland Agenda 2010), welche z. B. Frankreich und Deutschland bereits in eine Verletzung der Stabilitätskriterien gedrängt hatten. Das kostete Deutschland und Frankreich politische Glaubwürdigkeit, aber es ist nicht sichtbar, welche realen Auswirkungen diese Verletzung ansonsten gehabt haben soll.

* Die (fehlende) Koordination europäischer Fiskalpolitik

Die europäischen Regierungen haben seit der Euro-Einführung ihre Fiskalpolitik nicht koordiniert. Fiskalpolitik umfasst die Ausgaben- und Einnahmepolitik; dazu gehört teilweise die Wirtschaftspolitik (deren Koordinierung immer wieder beschworen oder verteufelt wird, je nach Weltsicht), aber darüber hinaus vor allem die Steuerpolitik und das Gesamtniveau der Ausgaben, welches letztlich in alle Politikbereiche hineinwirkt. Die Fiskalpolitiken der Euro-Länder haben Effekte verschärft, die sie hätten beschränken sollen. Dazu gehören:
* die Überhitzung von Immobilienmärkten (oben als ‘Asset-Blasen’ bezeichnet);
* die signifikanten regionalen Ungleichgewichte in der Verschuldung von Haushalten und Unternehmen;
* die damit verbundenen extremen Ungleichgewichte der Exporte und Importe;
* der Wettlauf um niedrigere Unternehmenssteuern;
* ein mehr oder weniger offener Wettlauf um Unternehmenssubventionen.

Die fehlende Koordination der Fiskalpolitiken ist erst in der Euro-Schuldenkrise ins öffentliche Bewusstsein gerückt, vor allem ist der Mangel an Koordinierungszielen und -instrumenten. Die massive Kritik an der Führungsleistung der deutschen und anderer Regierungen und der damit verbundene Vertrauensverlust, ist vor allem Ausdruck dieses Mangels an gemeinsamen Zielvorstellungen (wobei der Mangel an Gemeinsamkeit in Deutschland mitten durch die Regierung geht – man stelle sich einen Moment lang vor, die griechische Regierung wäre so aufgestellt) und des Mangels an Instrumenten, solche Zielvorstellungen festzulegen und dann auch umzusetzen.

Die Vorschläge von Nicolas Sarkozy und Angela Merkel für eine ‘Wirtschaftsregierung’ haben zur Stoßrichtung, eine Plattform für Koordinierungsziele zu schaffen. Sie vermeiden aber die kontroversen (substantiellen) Fragen der Instrumente weitgehend. Zu letzteren wurden von mehreren Politikern Ideen vorgebracht: Phillip Rösler thematisierte eine Insolvenzordnung für (Euro-)Staaten; Wolfgang Schäuble plädierte für einen europäischen Währungsfonds und für einen europäischen Finanzminister, Peer Steinbrück für einen Schuldenschnitt für Griechenland (den er mit ‘der Einsicht, dass Griechenland pleite ist’, begründet – was der Jurist als ‘Insolvenz’ beschreibt).

In der Krise lässt, naturgemäß, wenig Zeit und Aufmerksamkeit für die allgemein-philosophische Entwicklung von Instrumenten; es geht darum, Brandherde unter Kontrolle bringen und Brandschäden so gering wie möglich zu halten. Da aber die Brandherde eben daher rühren, dass es keine Instrumente gibt, muss das Krisen-Management notwendigerweise solche Instrumente schaffen. Das tut vornehmlich die EZB dieser Tage, vor allem durch den Aufkauf von Staatsanleihen von Euroland-Regierungen, denen Zahlungsprobleme drohen. Die EZB stützt ihren Beitrag zum Krisenmanagement teilweise auf die Erfahrungen der US-FED in der Bankenkrise 2008/09. Das damalige Krisenmanagement der FED gilt im Großen und Ganzen als gelungen.

* Deutsche Geldpolitik – Volkswirtschaft im politiklosen Raum

Deutsche Geldpolitik-Theoretiker und -praktiker stehen dem Krisenmanagement der EZB mehrheitlich ablehnend gegenüber; zwei von ihnen halten sie in einem Masse für falsch, dass sie ihre Führungsämter im EZB-System aufgegeben haben. Sie und ihre ‘Glaubensbrüder’ (diese Denkrichtung hat traditionell wenige weibliche Wortführer) haben nicht wirklich dargelegt, wie sie die Krise managen würden, wenn man sie ließe. Ihre Einlassungen scheinen darauf hinauszulaufen, dass Griechenland seine Löhne und andere Preise weiter und schneller senken muss, als es das z.Zt. tut. Sie scheinen sich vorzustellen, eine Art Vormund einzusetzen, da die griechische Regierung das (nach dieser Denkweise) benötigte Tempo offenbar nicht leisten kann. Es gibt solche ‘Vormundschaften’ für überschuldete Privatpersonen, und z. B. für deutsche Städte und Gemeinden (durch die Bundesländer einzusetzen). Es gibt so etwas aber nicht in der EU oder Euro-Zone.

Die Mehrzahl der deutschen Geldpolitiker und -theoretiker, vermutlich die Mehrzahl der deutschen Angebotspolitiker, hat von Politik herzlich wenig Ahnung. Sie verachten sie einfach. Diese Verachtung verhindert eine wissenschaftlich-sachliche Auseinandersetzung mit den Prozessen, nach denen Politik gemacht wird und aus denen politische Ergebnisse hervorgehen. Brigitte Young hat das jüngst auf den Ordo-Liberalismus zurückgeführt, der an deutschen Volkswirtschaftsfakultäten vorwiegend (übergewichtig, ihrer Meinung nach) gelehrt werde (W&E 09/2011). Aber das scheint unfair: Die Vordenker des Ordo-Liberalismus waren alle in den Prozessen der Politik außerordentlich bewandert, und genau diese Kompetenz war eine Quelle ihrer Konzeptentwicklung. Wenn Youngs Hypothese vom Übergewicht denn zutrifft, wäre vielleicht angemessener formuliert, dass an deutschen Volkswirtschaftsfakultäten ein Vulgär-Ordo-Liberalismus gelehrt wird, dem wesentliche Horizonte des Originals abhanden gekommen sind.

Dies ist natürlich eine Hypothese, die ihrerseits weiter zu untersuchen wäre. Alternativ zur ‘Verachtungs-Hypothese’ könnte man eine ‘Komplexitäts-Hypothese’ aufstellen: Politik ist einfach viel zu kompliziert, als das Volkswirte mit ihren übersimplifizierten Modellen sie verstehen könnten.

* Eine Krise der Politik, nicht der Ökonomie!

Die Probleme der Euro-Region sind aber nicht vor allem volkswirtschaftlicher, sondern sie sind politischer Natur. Volkswirtschaftlich ist es ziemlich einfach: Hohe Schulden führen zu Abwertung der Währung, das entspricht realen Lohn- und Preissenkungen. Wenn nicht abgewertet werden kann, führen hohe Schulden eben zu nominalen Lohn- und Preissenkungen. Das Risiko des Bankrotts des Schuldners deckelt den Zugang zu immer weiteren Krediten.

Offensichtlich ist das Problem, dass die Euro-Region derzeit ein nicht bestehendes Bankrottrisiko mit nicht bestehender Möglichkeit der Währungsabwertung und an ihre Grenze stoßenden Nominallohn/preis-Senkungen verbindet. Entsprechend muss eine Lösung alle drei Stellschrauben lockern: Schuldenschnitt (=Insolvenz) schafft Bankrottrisiko; Beschränkungsregeln für die Kreditaufnahme (Schuldenbremsen etc.) haben die analoge Funktion. Austrittsklauseln aus dem Euro schaffen die Option der Währungsabwertung. Einen Regelrahmen für die Reduktion von Nominallöhnen/preisen hat noch niemand vorgeschlagen, aber man könnte ihn sich ordo-liberal ganz gut vorstellen. Eingriffsrechte der EU-Kommission in die (exekutive) Fiskalpolitik haben eine analoge Funktion.

Volkswirtschaftlich ist das Problem nicht allzu kompliziert (Geldtheorie ist nie kompliziert, dazu hat sie zu wenige Variablen), und die Lösungen sind recht allgemeinverständlich; allerdings hat sich nicht nur Frau Merkel, sondern auch so gut wie kein deutscher Ökonom (z.B. die Herren Weber, Stark oder Issing) die Mühe gemacht, das der Allgemeinheit zu vermitteln.

Zugegeben, es ist nicht trivial, die empirische Basis für die Umsetzung des einen oder anderen Lösungsansatzes zu ermitteln. Aber das eigentliche Problem ist nicht volkswirtschaftlicher Natur, weder theoretisch noch empirisch. Das eigentliche Problem ist politischer Natur. Deshalb gibt es keine Euro-Krise; es gibt auch nicht vor allem eine Schuldenkrise Griechenlands oder anderer. Es gibt eine Krise der europäischen Politik, und die ist vor allem eine Krise der deutschen Bundesregierung.

* Die Krise der deutschen Bundesregierung

Sicherlich werden Vertreter dieser Regierung das selbstbewusst zurückweisen, denn sie haben doch erfolgreich ein Paket verhandelt, dass alle drei genannten Stellschrauben angeht:
* Die Banken haben einem Schuldenschnitt zugestimmt, sie werden auf die Hälfte ihrer Außenstände an die griechische Regierung verzichten;
* der Stabilitätspakt der 1990er soll durch eine verbindlich-sanktionierte EU-Schuldenbremse ersetzt werden;
* die europäischen Verträge werden ‘geöffnet’, d.h. erweitert um Regelungen für verbindliche Koordinierungsziele und Eingriffe der EU-Organe (derzeit vorgeschlagen: Kommission) in nationales Haushaltsrecht.

Zugleich hat die Bundesregierung keine Verhandlungsfehler gemacht. Sie hat ihre – letztlich unvermeidliche – Zustimmung zur Zahlung eines Teils der Schulden Griechenlands und anderer Euroländer über den ESM (ab 2012, derzeit EFSF, der Unterschied liegt in der organisatorischen Verfassung, der breiten Öffentlichkeit als ‘Schutzschirm’ bekannt) so teuer wie möglich verkauft, d. h. sie hat feste Regeln für künftige Verschuldung auf den Weg gebracht, und sie hat einen Teil der Kosten auf die französischen und andere Banken abgewälzt. Verhandlungstheoretisch könnte man sogar argumentieren, dass das als Chaos wahrgenommene Regierungshandeln, vor allem von CSU und FDP verursacht, die Verhandlungsposition gestärt habe: Unberechenbarkeit macht die Drohung glaubwürdiger, den gesamten Euro in den Abyss zu gießen. Und schließlich hat die Regierung mit zweimaliger Kanzlermehrheit innerhalb von zwei Wochen ihre Handlungsfähigkeit bewiesen.

Doch die Argumentation kann kaum überzeugen. Zunächst einmal würde man bezweifeln, dass die Herrschaften Bosbach, Dobrindt, Gauweiler, Schäffler, Seehofer mit so viel vorausschauendem Scharfsinn agieren. Ansonsten wären sie sicherlich von Helmut Schmidt zum Schach mit eingeladen worden. Diese Politiker sind, soweit sie der CSU angehören, keineswegs unberechenbar – ob vorgetäuscht oder wirklich –, sondern sie sind provinziell engstirnig. Ihre Politik beruht auf demselben Konzept von Nationalstaat wie jene von Lady Thatcher und den EU-ausstiegswilligen Abgeordneten der britischen Konservativen. Es ist dasselbe Konzept, welches Europa im 19. und 20. Jahrhundert in die blutigsten Kriege aller Zeiten gestürzt hat. Aber viel konkreter und banaler sind die CSU-Herrschaften von der Angst vor dem Verlust der Mehrheit in Bayern getrieben. Diese Angst ist nicht nur dem normalen Parteien-Streben nach Wahlerfolgen entsprungen, sondern der tiefsitzenden Verunsicherung über die Veränderung der Welt, in welcher konservativ-lokalistische Wertvorstellungen – nach denen ein Lebensentwurf mit Vater-Mutter-Kind-Familie, Gymnasium, Katholizismus und Heimatverein (‘Mir san Mir’) sozialen Status und Einfluss maximiert – nicht mehr funktionieren. Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber; in einer offenen Krisensituation wie jener, welche sich in Euro-Land seit 2008 entwickelt hat, verhindert sie konstruktiv-innovatives Denken.

Es gibt viele Linke, die ebenfalls einem Zerbrechen Europas in nationale Wohlfahrtsstaaten zugeneigt sind. Denn Nationalkonservative werden von der europäischen Einigung vor allem dadurch überzeugt, dass man diese als Fortsetzung nationaler Interessen mit anderen Mitteln darstellt, dass man von den Vorteilen von Größe und Gewicht spricht, welche die EU geo-strategisch habe, verglichen mit jedem einzelnen Nationalstaat. Linke stehen dieser Argumentation ablehnend gegenüber. In der Tat ist nicht einsehbar, was die Vorteile Griechenlands sind, Löhne und Gehälter zu kürzen, anstatt über eine Währungsabwertung Wettbewerbsvorteile zu erzielen; damit Deutschland, Frankreich oder England ihre geo-strategischen Interessen verfolgen können. Linke sollten ihre Position überdenken im Bewusstsein der vollständigen nationalkonservativen Sicht, nicht nur ein größeren und/oder vielleicht mächtigeren Gebildes reflexhaft ablehnen. Ein Wettbewerb vieler nationalstaatlicher Währungsräume hat langfristig keinen sozialpolitischen Vorteil gegenüber einem europäischen Raum des Friedens und des Rechts, in dem Linke für Mehrheiten für ihre sozial- und auch geo-strategischen Vorstellungen werben können.

Angela Merkel ist bekanntlich keine Anhängerin einer Konservierung nationalkonservativer Wertvorstellungen und Überhöhung entsprechender Lebensentwürfe. Aber sie hat zugelassen, dass diese die Tagespolitik ihrer Regierung wesentlich prägen; sie hat keinen Weg gefunden, die CSU anzuschließen an den Modernisierungskurs, welchen die Minister von der Leyen und Röttgen verkörpern. Durch ihre ‘Schwäbische Hausfrau’-Rhetorik hat sie der sachlich falschen Vorstellung Vorschub geleistet und politisches Kapital zugefüttert, dass die Verschuldung eines Landes mit den gleichen Maßstäben wie die Verschuldung einer Einzelperson zu messen oder zu managen wäre. Aus derselben Linie heraus hat sie (in Spanien!) argumentiert, dass die Südeuropäer mehr arbeiten und weniger faulenzen (das Wort hat sie nicht benutzt, nur impliziert) müssten. Der „Economist“ hat diese Woche argumentiert, dass das größte Risiko für Euro-Land darin bestünde, dass der kommende italienische EZB-Präsident zu sehr versuchen würde, ein Deutscher zu sein. Das Magazin schrieb nicht ‘eine schwäbische Hausfrau zu sein’, aber die Wurzeln des Problems sind offenbar. Die seit den 1990er Jahren stagnierende Rhetorik von der ‘individuellen Leistungsbereitschaft’, welcher die FDP-Minister der äußeren Beziehungen, Westerwelle und Niebel, anhängen, bauen auf demselben Fundament auf.

Es kann argumentiert werden, dass die oben angesprochenen unpolitischen Vorstellungen führender deutscher Wirtschaftswissenschaftler und Geldpolitiker ebenfalls dieser Denkweise zuzuordnen sind; vielleicht sogar, in einer Untersuchung des Politik-Beratungsprozesses, als ihr Ursprung ausgemacht werden könnten. Anders, zugegeben polemisch zugespitzt, gesagt: Die deutsche Finanz-, Wirtschafts- und Geldpolitik wird nach den Maßstäben einer schwäbischen Hausfrau gemacht. Oder, gendergerecht, nach den Maßstäben jenes Müllermeisters-turned-Wirtschaftsminister (allerdings Franke, nicht Schwabe), dessen wichtigster Beitrag die Bemerkung war, ‘dem Finanzminister muss man auch jedes Wort aufschreiben’, und der dann zurücktrat, weil niemand sich seine aufgeschriebenen Worte anhören wollte.

Ausfluss dieses Denkens war eine Verschleppung und Verweigerung durch den größten Teil des letzten Jahres, deren Höhepunkt im Mai die rein wahltaktisch motivierte Verzögerung war, um das Thema des deutschen Beitrags zur griechischen Schuldentilgung nach dem Zeitplan deutscher Provinzwahlen (!) anzugehen. Das war unnötig und falsch, und wenn Frau Merkel behauptet, sie konnte es nicht besser wissen, dann lügt sie entweder, oder, im Lichte des oben diskutierten Themas, gesteht damit ihre Inkompetenz ein.

Im Ergebnis hat die Bundesregierung sich als unfähig erwiesen, politisches Kapital in die wichtigsten Themen zu investieren, zeitgerechte Handlungsfähigkeit in schwierigen Fragen herzustellen, und die Verpflichtung ihres grundgesetzlichen Mandates über Petitessen und persönlichen Querelen zu setzen. Der Amtseid der Regierungsmitglieder lautet ‘Schaden vom deutschen Volke abzuwenden’, nicht ‘das Schlimmste irgendwie verhindern’.

* Die (übliche) Krise der europäischen Organe

Da Deutschland das wirtschafts- und finanzstärkste und zugleich das geo-strategisch zentralste Euro-Land ist, prägt die beschriebene Krise der Bundesregierung das Handeln der gesamten EU, insbesondere der Euro-Zone.
Mancher Kommentator hat darauf hingewiesen, dass Krisenhaftigkeit ein konstitutives Element des europäischen Vereinigungsprozesses seit 1945 sei und dass die EU und ihre Vorgänger von Krise zu Krise gewachsen und gestärkt worden sei. Das kann in der Tat als bedenken-milderndes Argument gelten, wenn man das Handeln der europäischen Organe seit 2010 bewertet. Es ist vor allem relevant mit Blick auf die gern geäußerte Kritik, Europa sei zu langsam, oder lasse eine einheitliche Telefonnummer (basierend auf einem Bonmot von Henry Kissinger) vermissen.

Diese Kritiker haben aber nie erklärt, inwiefern schnellere Entscheidungen besser gewesen wären als jene, welche vergleichsweise langsam zustande kamen. Es ist auch nicht einsehbar, wie eine einheitliche Telefon-Nummer bei der Lösung der anstehenden Probleme helfen würde. Z.B. Barack Obama hat ein Telefon, aber weder waren der amerikanische Kongress und er schneller bei der Klärung der US-Bundesschulden-Obergrenze als die Europäer, noch hat der entsprechende politische Prozess als Beispiel von weltmännischer Führung überzeugt – ganz im Gegenteil.

Diese Diskussionen lenken von wichtigen strategischen Fragestellungen ab, welche darüber entscheiden werden, wie Europa aus dieser Krise hervor geht:

* Wenn die Einschränkung der nationalen Haushaltsrechte wirklich kommt, wird die EU einem formalen Bundesstaat signifikant näher sein als einem Staatenbund, der sie formell (aber nicht faktisch) jetzt noch ist. Eine Reihe von EU-Staaten, nicht nur Großbritannien, sondern auch Schweden und Finnland und vielleicht osteuropäische Staaten müssen die Grundsätze ihrer Europa- und Außenpolitik aufgeben, um dem zuzustimmen. Im Gegensatz zu anderen Entscheidungen ist es logisch unmöglich, bei diesem Punkt nationale Ausnahmeregelungen zuzulassen, denn das hebelte Grund und Sinn dieser Maßnahme aus.

* Die EU ist damit an einem Scheidepunkt, an dem sich ein ‘Kerneuropa’ bundesstaatlicher Integration und ein ‘Peripherie-Europa’ staatenbundlicher Kooperation ergeben könnte. Die formelle Festschreibung einer solchen Scheidung stellt die gesamte Statik Nachkriegseuropas in Frage. ‘Rein oder raus’ hat Implikationen für alle wichtigen Politikfelder und wird die geo-strategische Dynamik der kommenden Jahrzehnte prägen. Es ist fast völlig unklar (wohl mit Ausnahme Frankreichs, der Benelux-Staaten, Deutschlands und Österreichs), wie sich die kurz- und langfristige nationale Vorteilsabwägung für jedes einzelne Land darstellt, und es ist daher völlig ungewiss, wie die beiden Teile Europas zusammengesetzt sein werden.

* Einer der wichtigsten Entscheidungspunkte sind die europäischen Handelsungleichgewichte. Die deutsche Bundesregierung hat es vollkommen versäumt, ihrer Bevölkerung die unbequeme Tatsache deutlich zu machen, dass die Schulden der anderen die Kehrseite der eigenen Handelsüberschüsse sind. Daher hat Europa bisher keine Chance gehabt, über Maßnahmen zumindest zur Beschränkung, wenn nicht zum langfristigem Ausgleich dieser Handelsungleichgewichte zu diskutieren und zu beschließen. Die Sachlage wird dadurch noch komplizierter, dass die Handelsungleichgewichte quer durch die Eurozone laufen. Es könnte sich also ergeben, dass ‘Bundesstaat Europa’ aus Ländern mit und Ländern ohne Euro besteht und ‘Staatenbund Europa’ ebenfalls. Das würde das Risiko erhöhen, dass es zu beständigen Marktverwerfungen und Spekulationen über den Bestand der Eurozone kommt, also im schlimmsten Fall eine Verstetigung des Abwehrkampfes der Euro-Staaten gegen spekulative Attacken der Finanzmärkte.

* Es ist nun einmal so, dass die strategischen nationalen Interessen der EU-Länder bestenfalls bedingt konvergieren. Länder, welche wirtschaftlich und finanziell schwach sind, und Länder, welche eine relative Einflussposition in der ‘Weltpolitik’ inne haben, haben Anreize, eine dauerhafte Auflösung ihrer Entscheidungskompetenzen in einer veränderten EU zu verhindern - und zum Beispiel die Euro-Krise ‘am Köcheln’ zu halten, oder die Krise explodieren zu lassen. In der Tat haben eine Reihe europäischer und amerikanischer Kommentatoren das Agieren der Bundesregierung in diesem Sinne gedeutet. Wenn es zu einer dauerhaften Zweiteilung kommt, haben die Mitglieder des ‘Staatenbund’-Europas verstärkte Anreize, eine relative Schwächung des ‘Bundesstaat‘-Europas gegenüber ihrer nationalen Diplomatie zu erreichen. Darauf geht zum Beispiel der Streit um die Zusammensetzung und Beschlussfassung von Euroland (17 Mitglieder) und EU (27 Mitglieder) zurück, welchen Großbrittanniens Premierminister angestoßen hatte.

* Schließlich hängt die zukünftige Stabilität und Handlungsfähigkeit welcher europäischen Organe auch immer davon ab, ob das Verhältnis der öffentlichen Hand zu den Finanzmärkten grundsätzlich verändert wird. Das war 2008/9 im Rahmen der seinerzeit entstandenen G20 versprochen worden, es ist aber im Wesentlichen nichts passiert. ‘Die Märkte’ treiben ‘die Staaten’ immer noch vor sich her (auch linguistisch, wie dieser Satz zeigt). Ein alternatives Szenario würde
> Maximalgrößen für jedwedes privates Finanzinstitut festlegen,
> Investmentbanken strikt von Spar- und Kreditinstituten trennen,
> Zahl und Umfang von Investmentbank-Produkten definitiv deckeln,
> die persönliche Schuldhaftigkeit der Entscheidungen von Bankmanagern erhöhen,
> ein einheitliches öffentliches Ratingsystem für Staaten einführen (etwa beim IWF angesiedelt) und privaten Agenturen das Raten von Staaten verbieten.

Es ist offensichtlich, dass keine Reform, welche diesem Szenario auch nur nahe kommt, in Aussicht steht. Unglücklicherweise ist keine linke politische Kraft sichtbar, welche eine Diskussion in dieser Richtung antreiben würde. Einerseits stellt sich die Linke in Deutschland ins Abseits mit eindimensionaler Anti-Banken-Rhetorik; andererseits ist die Linke in Frankreich zu sehr national, um Größenbeschränkungen ihrer Banken zu thematisieren. Es bleibt zu hoffen, dass aus der ‘Occupy’-Bewegung (oder in Deutschland vielleicht aus der Piratenpartei) Anstöße kommen für neue Politikentwürfe zur Brechung der Oligopole auf den Finanzmärkten und der damit verbundenen, undemokratischen politischen Macht. Inzwischen ist zu befürchten, dass die Kapitalerhöhung für die europäischen Banken zunächst zu einer weiteren Konzentration, also Stärkung der Oligopole führen wird.

***

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die europäischen Organe einen passablen Lösungsweg für die derzeitige europäische Krise aufgezeigt haben. Sie haben dies trotz einer strategisch handlungsunfähigen deutschen Bundesregierung geschafft. Es bleibt abzuwarten, ob die Öffnung der Verträge die wünschenswerten Ergebnisse bringen wird. Langfristig wird eine Stabilisierung davon abhängen, ob die Handelsungleichgewichte aufgelöst und die Oligopole auf den Finanzmärkten gebrochen und/oder demokratisch kontrolliert werden. Die linken Kräfte in Deutschland und anderen europäisch Ländern müssen sich fragen lassen, warum sie die günstige Großwetterlage nicht politisch nutzen können.

Veröffentlicht: 27.10.2011

Empfohlene Zitierweise: Oliver Schmidt, Das europäische Paket und die europäische Krise, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 27. Oktober 2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)