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Die nächste Finanzkrise und der Süden

Artikel-Nr.: DE20171018-Art.18-2017

Die nächste Finanzkrise und der Süden

Was die Entwicklungsländer tun können

Trotz des jüngsten Aufschwungs bleibt das globale Wachstum unter den Raten vor der globalen Finanzkrise. Zugleich haben sowohl Industrie- und Entwicklungsländer im Zuge der ultralockeren Geldpolitik in den USA und Europa massive Schulden angehäuft. Dass der Süden abhängiger denn je vom internationalen Finanzsystem ist, im Falle einer neuen Finanzkrise aber dennoch etwas tun kann, zeigt Martin Khor.

Anlage- und Kreditblasen sowie exzessive Risikobereitschaft, wie wir sie vor der Krise kannten, sind zurückgekehrt. Im Ergebnis zögern die Zentralbanken bei der Normalisierung der Geldpolitik. Doch je länger die ultralockere Geldpolitik fortgesetzt wird, desto schwieriger wird es, aus ihr auszusteigen, ohne neue Instabilität und einen wirtschaftlichen Rückgang zu riskieren. In jedem Fall kann der Prozess der Schuldenakkumulation, der Finanzblasen und der exzessiven Risikobereitschaft wie 2007/08 in den USA in eine ernste Krise münden, selbst wenn es keine grundlegende geldpolitische Kehrtwende in den Hauptindustrieländern gibt.

● Vor neuen Schuldenkrisen?

Wegen ihrer tieferen Integration in das internationale Finanzsystem sind inzwischen alle Entwicklungsländer beim Ausbruch einer neuerlichen Finanzkrise verwundbar, ungeachtet ihrer Zahlungsbilanzsituation, ihrer Auslandsverschuldung, ihre ausländischen Nettoanlagenposition und ihrer internationalen Reserven, obwohl diese eine wichtige Rolle dabei spielen können, wie sich solche Schocks Bahn brechen.

Eine große Mehrheit der Entwicklungsländer, vor allem in Lateinamerika, Afrika und Südasien, hat negative Nettoanlagepositionen, d.h. ihre externen Verbindlichkeiten übertreffen die externen Anlagen erheblich. Die meisten von ihnen verzeichnen nun Leistungsbilanzdefizite, weil die Rohstoffpreise und die Exportmärkte in den wichtigsten Volkswirtschaften schwach sind. Sogar jene mit positiven externen Nettoanlagepositionen und Leistungsbilanzen sind anfällig für externe finanzielle Schocks, weil ihre Finanzmärkte eng mit denen der Industrieländer verflochten sind.

Während der Lehman-Turbulenzen 2008 kamen auch die Währungen und Finanzmärkte von Ländern mit starken Reserven und externen Anlagepositionen wie China unter ernsthaften Druck. Damals waren die finanziellen Schocks jedoch dank einer deutlichen geldpolitischen Lockerung in den USA und Europa kurzlebig. Heute kann eine scharfe Umkehr der Finanzflüsse Unheil auf den Währungs- und Finanzmärkten aller Entwicklungsländer anrichten und Defizitländer nicht nur in eine Liquiditäts-, sondern auch in die Schuldenkrise stürzen.

● Verwundbarkeit trotz hoher Reserven

Die Entwicklungsländer haben seit Beginn dieser Dekade bemerkenswerte Anstrengungen unternommen, um präzedenzlos hohe internationale Reserven aufzubauen. Diese resultierten indessen in den meisten Fällen aus Kapitalzuflüssen statt aus Leistungsbilanzüberschüssen. Somit gibt es damit korrespondierende ausländische Verbindlichkeiten. In der Tat übersteigen die ausländischen Verbindlichkeiten die Reserven beträchtlich, da ein wichtiger Teil der Kapitalzuflüsse genutzt wurde, um die Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren. Deshalb könnte sich in den meisten Fällen herausstellen, dass die Reserven bei weitem nicht ausreichen, um einer Verknappung ausländischer Währung zu begegnen, die sich aus einer Kombination von einem starken Rückgang der Kapitalzuflüsse und der Exporteinnahmen ergibt.

Im Falle einer ernsthaften und anhaltenden Liquiditäts- und Zahlungsbilanzkrise könnten die flexiblen Wechselkurse, die in den meisten Emerging Economies im Nachgang zu den Krisen der 90er und der frühen Nuller-Jahre eingeführt wurden, nicht in der Lage sein, die Schocks zu absorbieren und den Ökonomien eine weiche Landung zu ermöglichen. Vielmehr könnten die Währungen unter ernsthaften Stress kommen, was wiederum ernste Schwierigkeiten für Unternehmen zur Folge haben könnte, die sich stark in Reservewährungen verschuldet haben, aber auch für die Staaten in vielen Ländern mit niedrigem Einkommen, die – um die niedrigen Zinssätze und die günstige Risikolage zu nutzen – erstmals an die internationalen Märkte gegangen sind.

Wie sich immer wieder gezeigt hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass unter solchen Bedingungen durch heimische Zinssteigerungen der Kapitalzufluss und das Zahlungsbilanzgleichgewicht wieder hergestellt werden kann. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach die Lage weiter verschlechtern und die Wirtschaft in eine noch tiefere Rezession treiben.

● Notfallpläne für die nächste Finanzkrise vorbereiten!

Die Entwicklungsländer sollten Notfallpläne entwickeln, wie sie auf eine erneute Krise reagieren könnten, statt darauf zu hoffen, dass sich solche Schocks nicht ereignen würden. Schon vor einer solchen Krise können sie Süd-Süd-Mechanismen stärken und andere internationale Arrangements treffen.

In Reaktion auf einen ernsten Zahlungsbilanzschock sollten die Entwicklungsländer nicht einfach zum Business-as-usual zurückkehren, ihre Reserven nutzen, Geld beim IWF leihen und Austerität praktizieren, um die Verpflichtungen gegenüber ausländischen Gläubigern und Investoren und ihren Kapitalverkehr offen zu halten. Sie sollten stattdessen versuchen, private Geber und Investoren in die Lösung von Liquiditäts- und Währungskrisen einzubeziehen, indem sie u.a. Wechselkursbeschränkungen einführen und zeitweise den Schuldendienst aussetzen („temporary debt standstill“).

Nach so vielen Jahren der finanziellen Exzesse und des Schuldenaufbaus dürfte es extrem schwierig werden, Schuldenkrisen zu vermeiden. Sollte die Weltwirtschaft erneut den Rückwärtsgang einlegen und die Einnahmen zurückgehen, könnte ein bedeutender Teil der seit 2008 aufgetürmten Schulden unbezahlbar werden, vor allem die von privaten und öffentlichen Akteuren in den Schwellen- und Entwicklungsländern (EDEs) gehaltenen Schulden. Die internationale Gemeinschaft sollte nicht erneut einen Kurs des Durchwurstelns einschlagen, wie sie das in der lateinamerikanischen Krise in den 1980ern und jüngst in der Eurokrise getan hat. Vielmehr sollte sie einen ordentlichen und gerechten Schuldenlösungsmechanismus einführen, der auf den weithin akzeptierten Prinzipien eines Insolvenzregimes beruht.

Im Fall einer Zahlungskrise sollten die Entwicklungsländer Maßnahmen zur Rationierung der ausländischen Devisen, zur Gewährleistung des Imports der wesentlichen Medikamente und zur Aufrechterhaltung der heimischen Produktion ergreifen. Das wird darauf hinauslaufen, nicht-wesentliche Importe vorübergehend zu kontrollieren. Wo nötig sollten diese Maßnahmen vom IWF unterstützt werden, etwa durch Kreditvergabe auch bei Zahlungsverzug. Doch sollten diese Kredite zur Sicherstellung des laufenden Zahlungsverkehrs und nicht zum Schuldendienst verwendet werden, um eine Schrumpfung des Imports und der ökonomischen Aktivität zu vermeiden.

Rolle des IWF und der Zentralbanken

Der IWF verfügt nicht über die Ressourcen, um eine allgemeine und scharfe Kontraktion der internationalen Liquidität zu bekämpfen, die sich aus der Normalisierung der Geldpolitik in den USA und/oder einer massiven Flucht in sichere Anlagen ergeben könnte. In jedem Fall sollten die wichtigsten Zentralbanken, besonders die FED, als Hauptverursacher der globalen finanziellen Fragilität, die jetzt den Süden bedroht, die Verantwortung für die Bereitstellung adäquater internationaler Liquidität übernehmen. Dies kann durch eine hohe Allokation von Sonderziehungsrechten (SZR) erfolgen. Der IWF kann wichtige Zentralbanken beauftragen, SZR von EDEs zu kaufen, die ihren SZR-Anteil diesbezüglich nutzen wollen. Man könnte auch entscheiden, SZR nur EDEs oder Nicht-SZR-Ländern (mit Ausnahme der Mitglieder der Eurozone) zuzuteilen. Alternativ könnten die FED und andere Zentralbanken für EDEs mit ernsten Liquiditätsproblemen direkt quasi als „Lenders-of-last-resort“ agieren, indem sie von diesen lokale und international ausgegebene öffentliche Schuldverschreibungen kaufen, um deren Preise zu stützen und Liquidität bereitzustellen. Auch könnten sie Swap-Arrangements beschließen, um die Reserven von Ländern zu ergänzen.

● Süd-Süd-Arrangements

Bei Ausbruch einer Krise sollten die Entwicklungsländer verschiedene Süd-Süd-Mechanismen zur Bereitstellung von Liquidität aktivieren: diese sollten von IWF-Programmen entkoppelt und ausgeweitet werden. Es gibt den Latin American Reserve Fund, der 1978 von sieben Andenpakt-Ländern errichtet wurde, um Zahlungsbilanzhilfen bereitzustellen und die Einsatzbedingungen der von den Mitgliedsländern gehaltenen Reserven zu verbessern. Dieser hat bislang operiert, ohne die Bereitstellung von Liquidität an IWF-Programme zu koppeln.

Es gibt zwei andere Arrangements – die Chiang-Mai-Initiative (CMI) und das Notreserve-Arrangement (CRA: Contingent Reserve Arrangement) der BRICS (in der Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika Mitglied sind). Die CMI begann in Form bilateraler Swaps, um die existierenden internationalen Fazilitäten zu ergänzen (nicht sie zu ersetzen), bevor sie Ende 2009 multilateralisiert wurde. Die Initiative wurde niemals in Anspruch genommen; während des Lehman-Zusammenbruchs wandten sich die Republik Korea und Singapur vielmehr an die FED, und Indonesien sicherte seinen Finanzierungsbedarf mit einem von der Weltbank geführten Konsortium.

Die CMI hat mehrere Schwächen, durch die sie fast nicht praktikabel ist. Sie hat keinen gemeinsamen Fonds, sondern besteht aus einer Reihe von Versprechen, Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, wobei sich jedes Land das Rechts vorbehält, zu einem spezifischen Antrag eines Mitglieds nichts beizutragen. Die potentiellen CMI-Mittel sind zu klein und belaufen sich auf lediglich 1,5% des BIPs aller beteiligten Länder; und der Zugang zu mehr als 30% der jeweiligen Quote ist an ein IWF-Programm geknüpft.

Das CRA wird weithin als starkes politisches Zeichen der Solidarität unter den EDEs gepriesen. Während es zu früh ist für eine definitive Beurteilung, scheint es doch nicht sehr verschieden von der CMI zu sein. Es wurde entworfen, um die existierenden IWF-Fazilitäten zu ergänzen und nicht zu ersetzen. Vom Umfang her ist es sogar kleiner als die CMI und umfasst weniger als 1% des kombinierten BIPs aller BRICS. Und auch der Zugang zu mehr als 30% der den Ländern zustehenden Mittel ist an den Abschluss eines IWF-Programms gebunden.

● Revitalisierung des internationalen Handelns durch den Süden

Die Zeiten rufen nach einer Stärkung der politischen Solidarität zwischen den Entwicklungsländern. Zu viel steht auf dem Spiel, um mit dem Business-as-usual fortzufahren. Die Entwicklungsländer sollten eine Reihe von Diskussionen unter sich selbst führen, welche politischen Antworten auf eine neuerliche Finanzkrise notwendig sind. Eine solche Diskussion könnte auch die Untersuchung von Prioritäten und einer Agenda für die Veränderung der ökonomischen Global-Governance-Arrangements einbeziehen. Entsprechende Beiträge der G24, der G77 und anderer Gruppierungen der Entwicklungsländer wären entscheidend und kämen zur rechten Zeit. Das South Centre ist bereit, seine Rolle dabei zu spielen.

Posted: 18.10.2017

Empfohlene Zitierweise:
Martin Khor, Die nächste Finanzkrise und der Süden. Was die Entwicklungsländer tun können, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 18. Oktober 2017 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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