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Die WTO übt sich in neuer Balance

Artikel-Nr.: DE20131231-Art.45-2013

Die WTO übt sich in neuer Balance

Überraschungspaket aus Bali

Vorab im Web – Kein Zweifel: Das 9. Ministerial der Welthandelsorganisation, das vom 3.-7. Dezember 2013 im indonesischen Bali stattfand, hat geliefert. Doch ob das Bali-Paket ein „historischer Sieg der WTO“ ist, der sie vor der Irrelevanz bewahrt (Financial Times), oder aber „ein Desaster für eine gerechte Welthandelsordnung“ (Attac Deutschland), wird sich noch zeigen müssen. Denkbar ist immerhin auch die Perspektive einer schrittweisen Wiederbelebung der Doha-Runde, bei der diese doch noch zu ihrem Entwicklungsanspruch zurückfindet. Ein Ergebnisbericht aus Bali von Tobias Reichert.

Bali sollte der in die Krise geratenen Welthandelsorganisation wieder auf die Sprünge helfen. Nachdem mehrere Anläufe, die 2001 begonnene umfassende Doha-Runde zur Liberalisierung des Handels mit Gütern und Dienstleistungen abzuschließen, gescheitert und die Verhandlungen seit 2008 faktisch ausgesetzt waren, sollte nun zumindest ein Zwischenergebnis erzielt werden (zur Ausgangslage vor Bali ???042ae6a2840b88701???).

● „Bali-Paket“ mit begrenztem Themenspektrum

Um eine Einigung zu erleichtern, wurden alle Themen, die von den Mitgliedern echte Politikänderungen verlangt hätten, von vornherein ausgeklammert. Insbesondere der Abbau von Zöllen und Subventionen für Agrar- und Industriegüter und die Öffnung der Dienstleistungsmärkte wurden nicht verhandelt. Von der ursprünglichen Doha-Agenda blieben nur noch ein neues Abkommen zum Abbau administrativer Handelsschranken („trade facilitation“), Initiativen zum verbesserten Marktzugang für Güter und Dienstleistungen aus den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) und die Anpassung des Agrarabkommens damit die Unterstützung von Kleinbauern im Rahmen von Ernährungssicherungsprogrammen vereinfacht wird.

● Ernährungssicherheit und Kleinbauernförderung als zentrale Streitpunkte

Den letzten Punkt hatte die von Indien und Indonesien koordinierte Gruppe der 33 Entwicklungsländer mit kleinbäuerlich geprägter Landwirtschaft (G33) schon lange in die Verhandlungen eingebracht. Neue Dringlichkeit erhielt er dadurch, dass die indische Regierung als Reaktion auf zivilgesellschaftliche Gruppen wie die „Right to Food Campaign“ kürzlich beschlossen hatte, den Verkauf von staatlich subventionierten Grundnahrungsmitteln stark auszuweiten. Der Ankauf des dazu benötigten Getreides erfolgt in Indien zu staatlich festgelegten Preisen, um so vor allem Kleinbauern einen stabileren Absatzmarkt zu eröffnen. Durch dieses Element, gerät das Programm allerdings in Widerspruch zu den bestehenden WTO-Regeln, die staatliche Ausgaben für Ernährungssicherheits- und Lagerhaltungsprogramme zwar in unbegrenzter Höhe zulassen, aber nur, wenn der Ankauf der dafür benötigten Lebensmittel zu Marktpreisen erfolgt. Und dafür gelten die Preise von 1986-88 (!) als Referenzpreise. Da dies in Indien nicht der Fall ist, werden die Programme als „handelsverzerrende“ Unterstützung gewertet, für die eine Obergrenze besteht. Mit dem erweiterten Programm drohte Indien diese zu verletzen.

Der Vorschlag der G33 sah unter anderem vor, das Agrarabkommen so zu verändern, dass der Ankauf von Nahrungsmitteln von Kleinbauern zu festgesetzten Preisen nicht mehr als handelsverzerrend gewertet wird. Da aber vor allem die USA zu einer Regeländerung im Rahmen des Bali-Pakets nicht bereit waren, wurde in Genf eine auf vier Jahre befristete „Friedensklausel“ vorgeschlagen. Damit verpflichten sich die WTO-Mitglieder, keine Klage anzustrengen, auch wenn sie die Verletzung der Regeln durch ein Ernährungssicherungsprogramm eines anderen Lands vermuten. In dieser Zeit sollte eine dauerhafte Lösung verhandelt werden.

Die indische Regierung – und mit ihr die G33 - stimmte dem zunächst zu, verursachte damit aber einen Aufschrei zu Hause. Bauernverbände, darunter der größte Indiens, die „Right to Food Campaign“, andere Vertreter der Zivilgesellschaft und die größte Oppositionspartei liefen gegen eine zeitlich befristete Lösung Sturm. Sie befürchteten, dass das indische Programm nach Ablauf der Frist wieder in Frage gestellt wird. Bei der bisherigen Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung in der WTO ist alles nämlich andere als sicher, dass in vier Jahren eine dauerhafte Lösung vereinbart werden kann. Daraufhin zog der indische Botschafter seine Zustimmung zurück und verlangte eine dauerhafte Lösung. Da dies nicht koordiniert erfolgte, überraschte Indien damit auch seine Verbündeten in der G33. Dass die G33 derzeit von Indonesien koordiniert wird, das als Gastgeberland besonderes Interesse an einem erfolgreichen Ausgang hatte, hat das Verständnis für den Positionswechsel sicher nicht gesteigert.

● Druck auf Indien in Bali

In Bali angekommen, versuchten der WTO-Generaldirektor Roberto Azevêdo und die Industriestaaten, die indische Regierung zu isolieren. Noch vor dem offiziellen Beginn fand ein Treffen aller Verhandlungsführer statt, bei dem vor allem die Vertreter von LDCs und afrikanischen Staaten ihr Interesse am Abschluss des Bali-Pakets äußerten, das ihnen gerade mit Versprechen auf mehr Hilfe zur Umsetzung des neuen Abkommens zu „trade facilitation“ versüßt wurde. Gleichzeitig versuchten eine Reihe von Staats- und Regierungschefs, von Kanzlerin Merkel bis zum indonesischen Präsidenten Yudhoyono, durch Anrufe bei Premierminister Singh die indische Position zu beeinflussen. Von Anrufen bei Präsident Obama um die Opposition der USA gegen eine langfristige Lösung aufzuweichen wurde dagegen nichts bekannt.

Auf der anderen Seite erhöhte auch die indische Zivilgesellschaft den Druck. Vertreter der „Right to Food Campaign“ und von Bauernverbänden drängten durch Lobbying und Proteste in Bali und in Indien darauf, dass die indische Regierung sich zu keinem erneuten Schwenk zwingen lässt.

● Einigung mit vielen Einschränkungen

Indien konnte eine zeitlich unbefristete Lösung letztlich durchsetzen, nachdem die Verhandlungen um einen Tag verlängert wurden. Beschlossen wurde eine Friedensklausel, die als echte Interimslösung so lange in Kraft bleibt, bis eine dauerhafte Anpassung des Agrarabkommens beschlossen ist, was innerhalb von vier Jahren geschehen soll. Um dies zu erreichen, musste Indien allerdings sehr weitgehende Einschränkungen akzeptieren: Die Friedensklausel ist auf traditionelle Grundnahrungsmittel begrenzt und gilt nur für Programme, die jetzt schon in Kraft sind. Damit können andere Länder keine Programme nach dem indischen Vorbild neu auflegen, wenn diese die Obergrenzen überschreiten.

Die indische „Right to Food Campaign“ kritisiert dies heftig. Mindestens ebenso bedeutend ist für sie, dass Indien selbst nicht neue Nahrungsmittel in sein Programm aufnehmen darf, da dies wahrscheinlich als neue Maßnahme angesehen würde. Sie fordern aber gerade, dass nicht nur eine ausreichende Kalorienversorgung mit Weizen, Reis und Hirse gefördert werden soll. Vielmehr geht es auch um eine ausgewogene Ernährung mit nährstoffreicheren Linsen, Milch oder Obst.
Schließlich müssen Länder, die die Friedensklausel in Anspruch nehmen wollen, jedes Jahr bei der WTO Informationen darüber hinterlegen, welche Produkte zu welchen Mengen und Preisen an- und verkauft wurden, wie die Preise berechnet wurden, wie die Lagerbestände sich verändert und wie viel von dem jeweiligen Produkt im- und exportiert wurde.

Diese Einigung ist zwar weit von den Wünschen und Forderungen der indischen Zivilgesellschaft entfernt; dass sie ihre Regierung aber dazu bringen konnte, zumindest dies durchzusetzen, bringt ein neues Element in die WTO-Verhandlungen. Es sind nicht mehr allein mächtige Lobbygruppen, die ihre Interessen hinter verschlossenen Türen durchdrücken. Eine breite und gut organisierte Basisbewegung kann zumindest in der richtigen Konstellation dagegen halten.

● Keine Begrenzung der Exportsubventionen – unverbindliche Versprechungen für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs)

Der Aufwand, den Indien betreiben muss, um Programme für Ernährungssicherheit und Kleinbauern abzusichern, die den Handel verzerren könnten, kontrastiert mit dem auch nach Bali nicht eingeschränkten Recht der großen Industriestaaten, voran der EU, entwicklungs- und handelspolitisch besonders schädliche Exportsubventionen einzusetzen. Schon in Genf hatten EU und USA den Versuch blockiert, in Bali zumindest eine Verringerung der Obergrenzen festzulegen. Stattdessen wurde eine wortreiche Erklärung über äußerste Zurückhaltung bei der Gewährung von Exportsubventionen verabschiedet, die mit dem Satz endet, dass die Rechte und Verpflichtungen der Mitglieder unverändert bleiben. Damit können sie selbst entscheiden, ob sie sich daran halten oder nicht.

Ähnlich vage bleiben die (nicht einklagbaren) Versprechungen zu den Anliegen der LDCs. Besonders ist peinlich ist der Text zu Baumwolle, in dem bedauert wird, dass der 2005 (unverbindlich) vereinbarte schnellstmögliche Abbau der Subventionen der Industrieländer für den Sektor leider nicht umgesetzt wurde. Ein neues Komitee soll die Situation jetzt alle zwei (!) Jahre neu beraten – was darauf hinweist, dass die Subventionen wohl noch eine Weile bestehen bleiben werden.

● Administrative Handelserleichterungen abhängig von Kapazität

Beim handelspolitisch relevantesten Thema, dem neuen Abkommen zu administrativen Handelserleichterungen, konnten die Entwicklungsländer das Prinzip verankern, dass sie nur Bestimmungen des Abkommens umsetzen müssen, für die sie ausreichende Kapazitäten haben. Zunächst können die Entwicklungsländer selbst festlegen, wann sie bereit sein werden, einzelne Bestimmungen umzusetzen. Wollen sie diese Frist verlängern, müssen sie das bei einem Expertenkomitee beantragen. Wie dieses dann entscheiden wird, wird sich erst in der noch in fernerer Zukunft liegenden Praxis zeigen. Die Versprechen der Industriestaaten, Unterstützung beim Aufbau der Kapazitäten zu leisten bleiben gerade in finanzieller Hinsicht vage. Mit gewohnt-diplomatischem Geschick hat EU-Handelskommissar de Gucht auf einer Pressekonferenz erklärt, dass die Zusagen der EU keinen Cent zusätzlich kosten würden.

● Doha-Runde vorerst gerettet

Mit dem Bali-Paket hat sich die WTO, wenn auch zaghaft, als Forum für die Gestaltung internationaler Handelsregeln zurückgemeldet. Es wurde aber wieder deutlich, dass Fragen der Nachhaltigkeit wie Ernährungssicherheit und effektive Unterstützung der Entwicklungsländer nur unter größten Schwierigkeiten durchzusetzen sind. Die USA haben erst in letzter Minute und unter der Gefahr, dass die Organisation dauerhaft beschädigt würde, beschlossen, Freihandelsprinzipien hinter diesen Zielen zurück stehen zu lassen. Die übrigen entwicklungsrelevanten Beschlüsse bleiben, sowohl was die Einschränkung schädlicher Subventionen der Industriestaaten als auch verbesserten Marktzugang und finanzielle Unterstützung betrifft, letztlich unverbindlich.

Nach dem Willen der Minister sollen die ausstehenden Themen der Doha- Runde – also praktisch alle – nun anscheinend nicht mehr wie im Mandat vorgesehen simultan verhandelt und vereinbart werden, sondern weiter in kleineren Paketen angegangen werden. Die Vertreter in Genf wurden beauftragt, im nächsten Jahr einen Arbeitsplan für weitere Verhandlungen zu beschließen, mit den Schwerpunkten Landwirtschaft, Entwicklung/LDC und „aller anderen Themen, die für den Abschluss der Runde zentral sind“.

Die WTO hat mit dem knapp erzielten Erfolg in Bali wieder etwas an Statur gewonnen und will dies nun wiederholen. Wenn die Anliegen und Forderungen der Zivilgesellschaft vor allem in Entwicklungsländern weiter nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden, ist der Erfolg dieses Vorhabens allerdings mehr als unsicher.

Veröffentlicht: 9.12.2013

Empfohlene Zitierweise:
Tobias Reichert, Die WTO übt sich in neuer Balance. Überraschungspaket aus Bali, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 9. Dezemberr 2013 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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