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Eiserne Angela: Politik allein in Europa

Artikel-Nr.: DE20120611-Art.30-2012

Eiserne Angela: Politik allein in Europa

oder: Auf dem Weg ins Schmelzfeuer?

Angela Merkel gefiel sich einmal darin, als ‚neue eiserne Lady‘ mit der ins Legendäre entrückten Margarete Thatcher verglichen und als deren Wiedergängerin angepriesen zu werden. Es war nach ihrem entschlossenen und kaltblütigen Handeln in der Schwarzgeld-Affäre, in der sie sich und ihre Partei von Helmut Kohl emanzipierte, der zweite Sonnenstrahl der Geschichte auf der damaligen Oppositionsführerin. Eine Polemik von Oliver Schmidt.

Heute steht Angela Merkel wieder im gleissenden Licht der Geschichte. Doch diesmal ist sie nicht in Sonnenstrahlen gebadet, sondern in die aufleckenden Flammen eines Schmelztiegels, in den sie zu stürzen oder zu springen droht. Dieser Schmelztiegel nährt sich aus der Drohung von Euro- und EU-Zerfall, Zusammenbruch der Spar- und Bankenmärkte, und Absturz der Weltwirtschaft unter den Stand von 2008/9, und würde in der Hitze seines Feuers das Meiste von dem verzehren, was die westliche Zivilisation seit 1945 ausmacht.

* Grober Pinselstrich für Irritation und frisches Denken

Als Angela Merkel das erste Mal mit Margarete Thatcher verglichen wurde, war sie bestenfalls eine blasse Kopie, der man etwas Farbe zuschmeichelte. Sie hat politisch (und historisch) überlebt, weil sie sich entschlossener als jeder andere (vor allem jeder Sozialdemokrat) von allem distanzierte, was die von Margaret Thatcher verkörperte Politik ausmachte. Heute hält sie das Erbe der eisernen Lady fest in der Hand: ideologisch engstirnig gegenüber Argumenten, nationalistisch-verengt in ihrer Analyse, unbeugsam in ihren fiskal- und ordnungspolitischen Vorstellungen. Margarete Thatcher wurde von ihren eigenen Leuten politisch gemeuchelt. Angela Merkel könnte sie im Untergang übertreffen: mit der größten wirtschafts-, sozial- und geostrategischen Schmelze der Neuzeit.

Selbstverständlich sind die beiden vorherigen Abschnitte verkürzt und übertrieben, und in ihren historischen Parallelen fachlich zweifelhaft. Sie sind eine Polemik. Aber vielleicht trägt diese Polemik dazu bei, den deutschen Euro(pa)-Diskurs aufzurütteln. Es ist doch erstaunlich, und von außen betrachtet – der Autor lebt in Uganda – wirklich erschütternd: Die politischen und wirtschaftlichen Eliten aller reicheren und aufstrebenden Länder starren auf Deutschland (s. z. B. ‚Start the engines, Angela‘ im jüngsten Economist). Und worüber denkt die deutsche Politik nach? Ob die Sozis bei den Verhandlungen über den Fiskalpakt zu obstruktionistisch oder zu zahm sind. Ob Phillip Rösler, der auch Wirtschaftsminister ist, FDP-Vorsitzender bleibt. Ob Wolfgang Schäuble Euro-Gruppen-Vorsitzender wird.

Wählerinnen und Wähler? Bitte, das ist doch nicht euer Problem; seid versichert, dass eure Abstimmungen – siehe ‚die kleine Bundestagswahl‘ in NRW – nichts mit Europapolitik zu tun haben. Wohlgemerkt: Sowohl Bundesregierung als auch Opposition (in NRW ja mit vertauschten Rollen) waren darauf bedacht, jeden Hinweis auf das Thema zu vertuschen. Dieselben Leute, die sich nie zu blöd waren, Landtagswahlen zu Abstimmungen über alles Mögliche und Unmögliche (Rote Socken, Schwarzgeldkonten, doppelte Staatsbürgerschaft) zu machen, bloß nicht über Landespolitik. Was geht hier vor?

* Die Kommandohöhen der Wirtschaft

Erstens, die Politik ist zurück auf den ‚Kommandohöhen der Wirtschaft‘ (zur Geschichte vgl. Schmidt 2003). Am Ende von 30 Jahren Thatcherismus ist es die Politik allein, in deren Hand Wohl und Wehe – wirtschaftlich, sozial, geostrategisch – der nächsten 100 Jahre liegen. Keine Rechtsexegese, kein Stahl oder Hochfinanz, und auch, vielleicht leider, keine soziale Bewegung. Gewählte Politiker, zum Besseren oder zum Schlechteren, stehen allein auf weiter Flur.

Aber die Politik ist darauf nicht vorbereitet. In den letzten 30 Jahren haben Regierungen ihre Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt: Die regulatorische und technologische Entfesselung der Finanzmärkte hat Machträume geschaffen, in denen Regierungen nichts zu sagen haben; besonders die Regierungen Deutschlands, Grossbritanniens und der USA sind strukturell von den Finanzmachthabern durchdrungen; durch persönliche und ideologische Verflechtung auf den Ebenen der Wirtschaftstheorie (ganz besonders in Deutschland), der Parteien und ihrer Vertreter, und der Ministerialbürokratien, wo Finanzmarktlobbyisten immer mit am Tisch sitzen, wenn Regulierungen formuliert werden. Darüber hinaus haben die Regierungen formal keine Kontrolle über die Zentralbanken. Wichtiger noch, die Privatisierung der Massenmedien hat Parteien und Politik die Chance zur eigenständigen Massenkommunikation weitgehend genommen (diesen Punkt arbeitet Steinbrück [2010] hervorragend heraus). Stattdessen müssen sie sich an die Aufschrei- und Aufregerregeln dieser Medien anpassen, welche zugleich wirtschaftlich teilabhängig von der Finanzmarktlobby sind. Schliesslich werden wichtige Rahmenbedingungen in internationalen Gremien gesetzt, wo ‚staatliche Macht zu internationalem Einfluss gerinnt‘ (Dembowski 2003), was aber unter den Bedingungen privater Massenmedien niemals schlüssig und breit kommuniziert werden kann.

* Nationalistischer Denkkäfig

Zweitens: Die Politik hat sich in einen nationalistischen Denkkäfig gesperrt. Frau Merkel verhandelt im deutschen Interesse, und so tun es Herr Cameron, Herr Rajoy und Herr Tschilpas. Es ist in deutschem Interesse, so wenig wie möglich zu zahlen, es ist in Herrn Rajoys und Herrn Tschilpas Interesse, so wenig wie möglich zu zahlen (und in den USA geht es im laufenden Präsidentschaftswahlkampf um ‚Amerikas Größe‘; welche die Wall Street damit identifiziert, den Amtsinhaber zu stürzen, der es gewagt hat, ihre Leistungen in Frage zu stellen). Die Zahlungen des einen sind der Gewinn des anderen ‚Spielers‘; es ist ein Win-Loose-Spiel.

Die Spieltheorie hat gezeigt, dass Win-Loose-Spielen ein Selbstzerstörungsmechanismus innewohnt. Jeder Mitspieler ist dazu geneigt, zum Äußerten zu reizen. Aber wenn einer überreizt, gibt es kein Zurück mehr; und es wird zur besten Option des überreizten Mitspielers, das Spiel immer weiter in den Abgrund zu treiben.

Frau Merkel, Herr Rajoy, Herr Cameron, Herr Tschilpas: Alle haben etwas zu verlieren – Ansehen, Wahlen, partei- und andere politische Ämter und Einfluss, Steuergelder. Alle müssen, verhandlungstheoretisch, dem anderen vor Augen führen, dass er oder sie mehr verliert, wenn er oder sie zahlt, als wenn nicht. Wenn man in Herrn Tschilpas Situation ist, dann ist brutale Irrationalität eine sehr vielversprechende Strategie. Das ist wohl den griechischen WählerInnen intuitiv klar, deshalb haben sie die ‚loose cannon‘ Tschilpas auf Deck gebracht.

Im Falle eines Kartenspiels gibt es den unweigerlichen Moment der Auflösung, wenn die Karten auf den Tisch kommen. Aber in anderen Spiel-Designs gibt es einen solchen zwingenden Endpunkt nicht, und es gibt die Möglichkeit des Wettlaufs in die Katastrophe. In der nationalen Politik ähneln Wahlen dem Moment des ‚Karten auf den Tisch‘; in der internationalen Politik, und auch innerhalb der Europäischen Union, gibt es aber einen solchen Punkt nicht.

* Feigheit vor dem deutschen Wähler

Drittens: Alle im deutschen Bundestag vertretenen Parteien und ganz genauso die neuerdings populäre Piratenpartei haben gleichermaßen darin versagt, Europa und den Euro zu einem politischen Thema zu machen. Die SPD und die Grünen (und für einen ganz kurzen Moment der CDU-Spitzenkandidat in NRW) hatten ein paar zaghafte Versuche unternommen, mit der Diskussion über vergemeinschaftete Verschuldung – welche ja sogar der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage (2011) befürwortet. Aber sie waren zu feige, in der NRW-Landtagswahl um ein wie auch immer geartetes Europapolitisches Mandat zu werben. Deutsche Europapolitik ist ganz entschieden Hinterzimmerpolitik. Und das scheinen auch die ‚Piraten‘ gut zu finden. Sie haben einfach gar nichts zu Euro oder Europapolitik zu sagen.

Aber genau diese deutsche Euro(pa)politik wird die Gestalt des Euro, der Europäischen Union und wohl der westlichen Welt maß- und vorgeblich prägen. Die deutschen SteuerzahlerInnen werden einen enormen und schmerzhaften Preis zahlen. In jedem Fall. Man sollte erwarten, dass in einer Demokratie, welche den Namen verdient, eine solche fundamentale Frage öffentlich intensiv diskutiert wird. Man – genauer: JournalistIinnen, WählerInnen – sollten PolitikerInnen daran messen, inwieweit sie eine solche Diskussion anfeuern. Aber das passiert einfach nicht.

* Die ungebrochene Macht der Finanzmarktakteure

Viertens: Es gibt keinerlei Fortschritt bei der Herausforderung der Mächtigen auf den Finanzmärken – Bankenführer, Hedgefondbesitzer, Kapitaleigner von diversen Schattenbanken. Während diese ihre ganze Macht nutzen (s. erstens), haben die Regierungen es geschafft, davon abzulenken, dass diese Leute die Feuerwalze überhaupt erst erschaffen haben, die nun alles zu verschlingen droht (s. Schmidt 2011). Keiner von diesen hat auch nur das geringste Fünkchen gesamtgesellschaftliche Verantwortung gezeigt in all den Jahren seit 2007/8. Stattdessen zeigen sie nun wieder auf die Regierenden. Und die haben nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig zu lähmen.

* Ausblick

Europäische und andere Regierungen haben bewunderswerte Leistungen vollbracht seit 1945. Die wichtigsten Regierungen der Welt haben die Feuerwalze in 2008 schon einmal davon abgehalten, alles zu verschlingen. Sie können es wieder tun. Die Frage ist, ob sie, wie 2008, schnell und entschlossen handeln können. In Europa haben die Regierungen seit 1945 grosse Erfolge erzielt, indem sie an die Stelle des ‚Mein Gewinn ist dein Verlust‘ das ‚Mein Gewinn ist dein Gewinn‘ gestellt haben. Die europäische Politik muss sich schnell auf diese ihre größte Errungenschaft des 20. Jahrhunderts zurückbesinnen.

Das heißt, dass die Europäer für einander die Schulden zahlen werden. Die anderen zahlen ja bereits für unsere deutschen Schulden; denn die Null- und Negativprozente der deutschen Staatsschuld sind ja nichts anderes als Krisengewinne aus der Deflationskrise Griechenlands, Spaniens und anderer.

Es heißt auch, dass der Euro eine höhere Inflation als bisher in Kauf nehmen wird; damit zahlen die deutschen Zahler für die deutschen Exportgewinne; nicht sehr elegant, aber keinesfalls völlig ungerecht. Wenn Griechenland, Portugal, Italien und andere wieder wettbewerbsfähigere Unternehmen haben werden, wird die Inflation wieder sinken; ebenso wie die deutschen Exporte in einige dieser Länder (oder in andere Länder, wo deutsche Unternehmen dann mit griechischen, portugisieschen oder italienischen konkurrieren werden).

Es heißt hoffentlich auch, dass der Finanzmarktadel endlich wirkungsvoll und dauerhaft entmachtet wird (die entsprechenden Maßnahmen sind im neuen Buch von Nobelpreisträger Paul Krugman [2012] gewohnt wortgewandt und überzeugend begründet; Schmidt [2011] gibt dieselben im schnellen Überblick).

Kleinlicherweise hängt die Fähigkeit der deutschen Politik, diesen Löschzügen freie Fahrt zu geben, daran, inwieweit sie ihre ganz eigenen Denkkäfige aufreißt. Eine offene und kontroverse demokratische Auseinandersetzung um die beste Europa-Politik wäre sehr wünschenswert, ist aber wohl wenig wahrscheinlich. Zweitbeste Lösung wäre eine Große Koalition, in der die Sozialdemokraten die Kanzlerschaft von Frau Merkel verlängern – oder sie vielleicht Herrn de Maiziere beschert – und dafür die nationale Verantwortung, die sie ja im vergangenen Jahr bereits übernommen haben, mit Ämtern ausstatten.

Eines ist gewiss: Die Geschichte wird sich nicht so sehr an den Namen der deutschen Kanzlerin oder des Kanzlers erinnern; sondern daran, ob die Bundesrepublik Deutschland ihre größte historische Bewährungsprobe seit ihrer Gründung bestand; oder ob die Feuerwalze durchbrach.

Hinweise:
* Dembowski, Hans (2003): Wenn Staatliche Macht zu internationalem Einfluss gerinnt, in: Schmidt (2003), S. 19-28.
* Economist (2012): Start the engines, Angela – The world economy is in grave danger. A lot depends on one woman, in: The Economist (Print Edition), 9 Jun 2012.
* Krugman, Paul (2012): End this Depression Now (W. W. Norton & Company).
* Sachverständigenrat (2011): Verantwortung für Europa wahrnehmen, Jahresgutachten 2011/12, unter: www.sachverständigenrat-wirtschaft.de/aktüllesjahrsgutachten.html [10th June 2012].
* Schmidt, Oliver (2011): Europa am Scheidepunkt: Die Anatomie der europäische Krise, in: Informationsbrief Weltwirtschaft und Entwicklung (W&E), 11-12/2011, Seite 4-5.
* Schmidt, Oliver (2003) (Hg.): Die neuen Kommandohöhen – Untersuchungen über Globalisierung und Politik (Verlag für Wissenschaft und Forschung).
* Steinbrück, Peer (2010): Unterm Strich (Hoffmann und Campe).

Dr. Oliver Schmidt ist wissenschaftlicher Berater für Microfinance an der Mountains of the Moon University in Fort Portal, Uganda.

Veröffentlicht: 11.6.2012

Empfohlene Zitierweise:
Oliver Schmidt, Eiserne Angela: Politik allein in Europa oder: Auf dem Weg ins Schmelzfeuer? , in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 11. Juni 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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