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G20: Als Tiger gesprungen...

Artikel-Nr.: DE20120626-Art.32-2012

G20: Als Tiger gesprungen...

Der Multilateralismus nach Los Cabos

Die Erwartungen an den G20-Gipfel in Los Cabos/Mexiko waren niedrig. Dennoch hat das Treffen mit seiner Substanzlosigkeit die Erwartungen noch unterboten. Zu dicht sei die Konferenz auf Cannes gefolgt, heißt es. Und im US-Wahlkampf bespiele der Präsident ohnehin nur die heimischen Medien. Es stellt sich aber grundsätzlich die Frage nach den tiefer liegenden Ursachen für das Versagen des Multilateralismus, zumal es zusammen mit Rio+20 einen Doppelflop gab, schreibt Peter Wahl.

Mit den Gipfeln in London und Pittsburgh hatten die G20 den Eindruck erweckt, eine neue Qualität der multilateralen Zusammenarbeit bei der Regulierung des Finanzkapitalismus zu erreichen. Es gab Einsichten in die Ursachen der Krise, und viele der Reformvorschläge gingen in die richtige Richtung. Dennoch hat sich im Kerngeschäft der G20 praktisch nicht viel getan.

* Versagen im Kerngeschäft

Die US-Reform (Dodd/Frank Act) wird von der republikanischen Mehrheit verwässert und blockiert. Das wenige, das umgesetzt wurde, wie die Reform der Finanzaufsicht, hat nichts genutzt. Sonst hätte es die jüngste Spekulationspleite von J. P. Morgan über 6 Mrd. US-Dollar nicht geben dürfen.

In der EU sieht es noch dramatischer aus. Vier Jahre nach dem Crash ist keine der wichtigen Reformen (???042ae6a066099880e???) – Eigenkapitalregeln, Schattenbanken, Derivate, Insolvenzregelung, Ratings – über Ankündigungen oder Gesetzesentwürfe hinausgekommen. Dafür hat sich die Finanzkrise untrennbar mit der Schuldenkrise und einer neuen Bankenkrise zu einer existentiellen Krise der EU verknotet.

Bei diesem Tempo wird man auch bei „Pittsburgh+20“ noch nicht viel weiter sein.

* Selbstreferenzielles System

Seit Toronto erweisen sich die Gipfel zunehmend als selbstreferentielles System, das in seinen Aussagen allenfalls die diskursiven Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Die Gipfelhermeneutiker mögen dann feststellen, dass es in diesem oder jenem Punkt Fortschritte in der „language“, in einer Formulierung des Kommuniqués gegeben hat. Unter den vielen „sowohl als auch“ und „unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten“ ist für jeden etwas zu finden - zumal die Spin-Doktoren ihren Chefs für Mexiko Schmusekurs verordnet hatten. Alle waren nett zueinander und simulierten weltpolitische Bedeutung des Meetings.

Aber die Zukunft der EU entscheidet sich in Berlin, Paris und ein bisschen in Rom, Madrid und Athen. Und die Zukunft des Weltfinanzsystems in Washington, Peking, Tokio, Berlin, London, Paris. Genau das ist das Problem.

* Nationalstaat kein Auslaufmodell

Der entscheidende Akteur ist – ob man das gut findet oder nicht - noch immer der Nationalstaat, und hier in erster Linie der große Nationalstaat: die Großmacht, die in der Lage ist, dank ihrer Machtressourcen – Wirtschaftskraft, Militär, Politik, kulturelle Softpower etc. – multilaterale Prozesse zu beeinflussen oder zumindest blockieren zu können.

Der Nationalstaat ist kein Auslaufmodell. Zwar ist richtig, dass er im Zuge der Globalisierung an Problemlösungs- und Steuerungsfähigkeit verloren hat. Aber der Multilateralismus hat das nicht kompensieren können. Das grundlegende Dilemma der Globalisierung ist ungelöst: nämlich die Schere zwischen der Globalisierung multipler Krisen auf der einen Seite und dem Fehlen eines politischen Instrumentariums zu ihrer Bearbeitung auf der anderen. Das gilt für die Finanzkrise gleichermaßen wie für die Klimakrise. Hier liegen die strukturellen Wurzeln für das Versagen des Multilateralismus. Schon die EU, immerhin die höchstintegrierte Gruppe von Nationalstaaten, ist unfähig, ihre Probleme zu lösen.

* Pfadabhängigkeit überwinden

Dabei geht es nicht so sehr darum, dass das politische Personal unfähig oder verantwortungslos wäre, oder „nur der politische Wille“ fehlen würde. Den politischen Willen der G20 gibt es nicht, sondern eine Vielzahl widersprüchlicher politischer Willen bzw. Interessen. Diese sind ihrerseits die Resultante komplexer innerer Kräfteverhältnisse.

Wenn z.B. Merkel so vehement die Fahne der Austerität hochhält, dann im Kern nicht nur deshalb, weil das deutsche Akkumulationsmodell auf Wettbewerb und dem Bundesbank-Monetarismus beruht, sondern auch bei Funktionseliten wie auch in einer mittelständischen, aber weltmarktfähigen Industrie und deren Beschäftigten bis weit in die IG-Metall hinein eine soziale Basis hat. Auch wenn Sahra Wagenknecht Kanzlerin wäre, könnte sie das Ruder nicht von heute auf morgen herumwerfen.

Es gibt eine Pfadabhängigkeit in komplexen Gesellschaften, die ökonomisch, juristisch, institutionell, kulturell etc. enorm verfestigt ist. Davon loszukommen ist ein komplizierter Prozess. Das gilt leider auch für den Pfad in den Abgrund.

* Effekte der Multipolarität

Das internationale System ist im Übergang zur Multipolarität. China steigt zur Supermacht auf. Die USA sind noch die Nr. 1, aber deutlich angeschlagen. Die Schwellenländer befinden sich in Aufholjagd, und die EU steigt in die zweite Liga ab. Wir erleben den Anfang vom Ende der 500-jährigen Epoche der Dominanz des Westens über den Rest der Welt. Das merkt man auch auf G20-Gipfeln.

Dabei bilden sich inzwischen neue Allianzen, wie die der BRICS (Brasilien, Russland, Indien China, Südafrika). Diese bereiten sich nicht nur gemeinsam auf G20-Gipfel vor, sondern planen auch eigenständige Projekte, wie eine Entwicklungsbank, die die Rolle von IWF und Weltbank relativieren dürfte.

In einer solchen Umbruchsituation bekommen Fragen der Rangordnung in der internationalen Hierarchie eine noch größere Brisanz als sonst. Die Aufsteiger wollen mit aller Macht nach oben, die Etablierten verteidigen ihre Position mit Zähnen und Klauen. Dieser Rationalität werden andere Interessen nachgeordnet. Das gilt für Finanzmarktreformen wie für Klima- und Umweltkrise gleichermaßen. Standortwettbewerb hat Priorität. Multilaterale Vereinbarungen werden nur soweit akzeptiert, wie sie in die nationalstaatlichen Interessen passen, und die multilateralen Foren werden zur Arena, in der die Interessenskonflikte ausgetragen werden.

* Patchwork-Governance

All das ist jedoch kein Grund, die multilateralen Gremien einfach aufzulösen. Die Bemühungen um universelle Lösungen dürfen nicht aufgegeben werden. Aber sie sollten auf ein realistisches Maß heruntergeschraubt und die pompösen Gipfel-Shows zu echten Arbeitstreffen werden. Parallel dazu gilt es, andere Wege zu beschreiten. Zum Beispiel Koalitionen von Willigen, mit wechselnden Partnern bei wechselnden Themen. Ein vernünftiges Beispiel gibt es mit der Finanztransaktionssteuer, die zunächst im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit realisiert wird, weil es in der EU-27 nicht geht.

Statt des großen, globalen Wurfs werden wir uns mit einer Art Patchwork-Governance bescheiden müssen. Bilaterale, plurilaterale und multilaterale Regulierungen werden sich als einzelne Elemente wenigstens zu einem Flickenteppich fügen.

Aber auch auf nationaler Ebene geht mehr als man denkt. Als Schäuble einseitig den Verkauf von Leerverkäufen verbot, gab es großes Geschrei, auch bei SPD und Grünen, weil das angeblich uneuropäisch sei. Inzwischen bereitet die EU eine entsprechend Direktive vor. Vorreiter, vor allem wenn es sich um große Spieler handelt, können eine Dynamik lostreten.

Das ist auch die Chance für die Zivilgesellschaft. Ihre Stärke liegt in der Fähigkeit zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung, bei Wertorientierungen, nicht auf dem Terrain der Gipfeldiplomatie nicht im technischen Kleinklein, sondern auf der Straße.

Hinweis:
* Mehr im Blog www.baustellen-der-globalisierung.blogspot.com und auf der ???042ae6a0700a76604???.

Veröffentlicht: 26.6.2012

Empfohlene Zitierweise:
Peter Wahl, G20: Als Tiger gesprungen... Multilateralismus nach Los Cabos, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 26. Juni 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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