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Imperiale Lebensweise?

Artikel-Nr.: DE20170530-Art.13-2017

Imperiale Lebensweise?

Das Nord-Süd-Verhaltnis re-visited

“Imperiale Lebensweise“ (IL), wie sie in einem neuen Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen kritisiert wird (s. Hinweis), ist eine im „Norden“ verallgemeinerte Form des Lebens in scheinbarem Überfluss, die auf Ausbeutung von Menschen und Natur „andernorts“, d.h. im „Süden“, beruht. Hier, im Norden, Reichtum, Wohlstand, Verschwendung – dort, im Süden, Armut, Elend, Not. Ersteres ist ursächlich durch letzteres bedingt. Es besteht ein eindeutiges und alles determinierendes Kausalverhältnis. Kritische Anmerkungen zu dem Konzept von Dieter Boris.

Diese „im Norden“ verallgemeinerte, wohlstandsgeprägte Lebensweise ist durch die Jahrhunderte lange Entwicklung und weltweite Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise entstanden. Der Begriff IL verdeutlicht „den engen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Produktionsweise, Alltagspraxen und Subjektivierungsformen“ (65). Die mit der IL verbundene neoliberale Hegemonie wirkt gesellschaftspolitisch stabilisierend, herrschaftslegitimierend und verschleiernd.

● Kein Schnellschuss

Einseitige und asymmetrische Ausbeutungsverhältnisse von Menschen und Natur des „Südens“ sowie die Externalisierung vieler mit der IL verbundenen Probleme (Müll, Folgen des Klimawandels etc.) nach außen (in den „Süden“) bilden, wie die Autoren zu Recht festhalten, keine dauerhafte und nachhaltige Grundlage für das Zusammenleben der Menschen im Norden und Süden; mit der Ausbreitung der IL werden grundlegende Konflikte wachsen und sich zuspitzen. Oder anders ausgedrückt (und wie seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts bekannt): Die weltweite Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise und ihres Konsummodells ist mittel- und langfristig unmöglich, da der Planet Erde dadurch einem Kollaps zugeführt würde. Die notwendige Infragestellung dieses Komplexes von Herrschaft, Ausbeutung und Konsum- und Lebensformen ist die Voraussetzung für eine gebotene grundlegende sozial-ökologische Transformation.

Dabei ist anzufügen, dass es sich bei der Präsentation dieses Konzepts keineswegs um einen „Schnellschuss“ handelt. Soweit ich sehe, hat Ulrich Brand dieses erstmals schon im Jahr 2009 (in Prokla 156) vorgestellt und seither in zahlreichen Arbeiten immer weiter zu differenzieren und zu vertiefen versucht. Dennoch sind problematische Elemente des IL-Konzepts nicht zu übersehen.

Im Hintergrund steht die alte, von der Linken zeitweise (in den 60er und 70er Jahren) und in agitatorischer (vergröbernder) Weise vorgetragene Vorstellung: Der Reichtum der metropolitanen Zentren beruht auf der Ausbeutung und der Armut der Peripherie. Die Jahrzehnte lange Diskussion dieser Frage hat aber zu einer auch in der Linken und unter MarxistInnen überwiegend akzeptierten Relativierung dieser Sichtweise geführt. Zwar hat es offenkundig mehr oder minder intensive bzw. dauerhafte Ausbeutungsbeziehungen gegeben, doch mussten diese (und der damit verbundene Wertetransfer) nicht unbedingt zur positiven Entfaltung des „modernen Kapitalismus“ beitragen, wie beispielsweise die relative Stagnation Spaniens im 16. und 17. Jahrhundert zeigt.

● Innere Akkumulationsdynamik entscheidend

Sowohl die Herausbildung, Entfaltung und Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise in Europa muss vor allem auf die internen Prozesse der „ursprünglichen Akkumulation“ (Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Subsistenz- und Produktionsmitteln) und auf die systematische Reinvestition und Akkumulation bedeutender Teile des erzeugten Mehrwerts sowie die mit den Konkurrenzbeziehungen verbundene beständige Produktivkraftsteigerung zurückgeführt werden; was nicht ausschließt, dass die Ausbeutung der Peripherie ein – mehr oder weniger wichtiges – Komplement dabei war (bei Großbritannien mehr als bei Deutschland oder Schweden, obwohl alle drei gleichermaßen zu einem hochentwickelten Kapitalismus gekommen sind).

Brand und Wissen erwecken den Eindruck, dass gegenwärtig die Außenhandels- und Investitionsbeziehungen der Metropolen zu den Peripherien wesentlich seien für den alles entscheidenden Zugriff auf Natur und Arbeitskraft der Peripherie. Ein flüchtiger Blick auf die Handels- und Investitionsbeziehungen zeigt aber z. B. für die heutige Bundesrepublik Deutschland, dass diese mit jenen Weltregionen, die als „globaler Süden“ bezeichnet werden, quantitativ von eher untergeordneter Bedeutung sind; wobei das subsaharische Afrika mit ca. 1%, Lateinamerika mit etwa 4% und Asien (ohne China) mit etwa 10% beteiligt sind. Ähnlich sieht es bei den Auslandsinvestitionen und ihrer Verteilung aus, was ja für den direkten Zugriff auf die Arbeitskräfte dieser Regionen von Belang ist. So müssten – bei einer ansatzweise seriösen Analyse – die pauschalen Aussagen und Behauptungen, wonach „unsere“ aktuelle IL extrem von den Rohstoffen und Arbeitskraftausbeutung des „Südens“ abhänge, doch sehr stark relativiert werden.

● Überholtes Zentrum-Peripherie-Schema

Bekanntlich kann man seit spätestens 30 Jahren nicht mehr schlicht von „einem
Zentrum“ und „der Peripherie“ oder „dem globalen Norden“ und „dem globalen Süden“ sprechen, da ja gerade in diesem Zeitraum bedeutende Neuentwicklungen in den weltwirtschaftlichen Beziehungen und der Verteilung der ökonomischen Gewichte eingetreten sind (???042ae6a1860c75e13???). Der – im Kontext forcierter wirtschaftlicher Internationalisierung – enorme Aufholprozess großer Schwellenländer, von denen manche sogar mittlerweile dem Club der Industrieländer OECD angehören, hat längst das erhebliche Gewicht einer Semiperipherie hervorgebracht, die (einschließlich der übrigen Entwicklungsländer) nicht nur zu mehr als die Hälfte am Welthandel beteiligt ist, sondern aus der zunehmend Industrieprodukte in den „Norden“ exportiert werden. Das altbekannte Schema „Nord“ vs. „Süd“, Industriewaren gegen Rohstoffe, stimmt schon lange nicht mehr in einer Welt, in der Semiperipherie und Peripherie ihren Anteil an der Weltindustrieproduktion bedeutend erhöht haben und umgekehrt Länder der Zentren (Norwegen, Kanada, Australien, Russland etc.) zu großen Rohstoffexporteuren aufgestiegen sind.

Auch der in den letzten beiden Jahrzehnten explosiv gewachsene Süd-Süd-Handel (der bei Brand und Wissen keinerlei Erwähnung findet) entspricht nicht dem alten Schema. War der Süd-Süd-Handel noch bis Anfang der 70er Jahre mit einstelligen Zahlen am gesamten Welthandelsvolumen beteiligt, wird heute sein Anteil auf ca. 35% von der Weltbank geschätzt. Auch der Anteil der Entwicklungsländer-internen Exporte an ihren jeweiligen Gesamtexporten hat sich deutlich erhöht (s. Box).

"Die höhere Weltmarktintegration der Entwicklungsländer ist bei genauerem Hinsehen in starkem Maße Ausdruck eines zunehmenden Süd-Süd-Handels. Während 1995 43% der Warenexporte der Entwicklungsländer in andere Entwicklungsländer gingen, waren es 2010 bereits 55%; in absoluten Werten ausgedrückt(US-Dollar nominal) verfünffachte sich der Süd-Süd-Handel."

KfW-Research: Entwicklung und Perspektiven des Welthandels, Nr.58, Feb. 2012

Zwar schimmert bei Brand und Wissen in manchen Passagen die Kenntnis einiger grundlegender Veränderungen durch, z.B. über die VR China (110ff) und bei „ökoimperiale Spannungen“ (121ff.), ohne jedoch im Anschluss daran zu einer Neureflexion ihrer veralteten bzw. bedeutungsarmen Begrifflichkeit („globaler Süden“, „imperiale Lebensweise“ etc.) anzusetzen.

Wenn sich die IL auch in den Schwellenländern rasch ausbreitet und sogar in den Spitzen der verbliebenen Peripherie um sich greift, entsteht die Frage, was das Adjektiv „imperial“ im Einzelnen noch auszusagen hat. Wenn fast alle „imperial“ werden, löst sich der ursprüngliche Bedeutungsinhalt von „imperial“ (Herrschaft – einer Minderheit – über eine übergroße Mehrheit) völlig auf. „Imperial“ wird eine plakative, entleerte, komplette Gesellschaften und ganze Weltregionen umfassende Eigenschaft, der jegliche Präzision und analytische Schärfe abgeht. Vielleicht ließe sich – weniger innovativ, aber treffender - schlicht von einer Lebensweise sprechen, die vom Produktions- und Konsumtionsmodell hochentwickelter Kapitalismen bestimmt wird; wobei bei der Realisierung dieser idealtypischen Lebens- und Konsumweise von einer starken, sozialstrukturell bedingten Hierarchisierung auszugehen ist.

● Ein ‚Zapatismus‘ für den Norden?

Die von Brand/Wissen angenommene IL, vor allem im Norden virulent, aber mittlerweile die halbe Weltbevölkerung umfassend, wird als relativ homogene Entität oder Wesenheit vorgestellt. Die großen sozio-ökonomischen und sozialstrukturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Nationalgesellschaften und noch mehr innerhalb dieser stehen irgendwie quer zu diesem Konzept bzw. werden in ihm quasi unsichtbar (wenngleich sie wortreich natürlich auch erwähnt werden). Beide Dimensionen: homogene Lebensweise und inhomogene Klassensegmente und extrem unterschiedliche soziale Milieus erscheinen als fast völlig unvermittelt miteinander. Obwohl die Lebensweisen und Lebensstile in den hochentwickelten Gesellschaften gerade in den letzten Jahren immer unterschiedlicher, ja entgegengesetzt zueinander auftreten.

Nicht zu Unrecht haben manche Kritiker des Konzepts IL (ohne dessen verdienstvolle Intentionen zu leugnen) eine Schwäche darin gesehen, dass letztlich der sog. Globale Norden der Hauptreferenzpunkt bleibt, d.h. der aktive Kern und Träger der Entwicklung, und dessen Lebensweise zum mehr oder weniger gelungenen „Abziehbild“ für alle anderen, den „Rest der Welt“, die Passiven, wird. So konstatieren Burchardt und Peters gar einen „eurozentrischen bias“ (s. Box).

"Dieser eurozentrische bias ist zum einen einer fehlenden empirischen Erdung geschuldet: So weisen mit Kuwait, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten gegenwärtig nicht Staaten des Globalen Nordens, sondern drei arabische Golfstaaten den größten ökologischen Fußabdruck pro-Kopf - also extrem ressourcenintensive Lebensstile - auf (WWF 2014: 17). Zum anderen ist der Begriff analytisch vage: Ressourcenintensive Lebensstile lassen sich bei vielen wachsenden Mittelschichten des Globalen Südens beobachten, auch Singapur und Bahrein gehören zu den ?Top Ten' der weltweit ressourcenintensivsten Lebensweisen (ebd.). Aber die meisten dieser Länder zeichnen sich eben keinesfalls durch einen ausgeprägten Zugriff auf externe Ressourcen aus; nicht selten werden ressourcenintensive kollektive Aufwärtsmobilitäten eher über ?innere Landnahme' (Dörre 2013) erreicht. Solche Dynamiken werden ausgeblendet und die eigentliche pointierte Begrifflichkeit reduziert sich dann auf eine normative - schlimmstenfalls moralisierende - Kritik westlicher Konsummuster, anstatt ihr analytisches Potential auszuschöpfen."

H.J. Burchardt/St. Peters: Anregungen für eine Staatsforschung in globaler Perspektive, in: dies. (Hg.): Der Staat in globaler Perspektive, Frankfurt/M. 2015

Damit ist ein weiterer Kritikpunkt angesprochen. Obwohl die Autoren nicht müde werden zu betonen, dass sie Strukturen und überpersönliche Mechanismen ansprechen wollen und die Hervorhebung Einzelner und moralische Vorhaltungen an diese nicht intendiert seien, fallen sie eben doch regelmäßig in eben letztere zurück. Das wiederum scheint mit ihren undifferenzierten Sozialstrukturvorstellungen zusammenzuhängen, aus denen besondere Interessen und Motive kollektiver Art für eine Veränderung der Verhältnisse nicht deutlich werden bzw. nicht angesprochen sind. Die Adressaten ihrer Klage und der sozial-ökologischen Transformationswünsche richten sich an die „besseren Menschen“, die mit Nischen-Projekten für eine solidarische Gesellschaft starten sollen. Eine Art „Zapatismus“ für den Globalen Norden.

Trotz dieser kritischen Einwände soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Brand/Wissen viele elementar wichtige Zusammenhänge anspruchsvoll und sehr informativ darstellen und analysieren. Dennoch sollte eine vorschnelle Euphorie über eine Selbstkreuzigung von Heerscharen „imperialer Lebenskünstler“, wie sie mit einem gewissen moralischem Impetus gerade bei jüngeren Anhängern von linken Bewegungen zu beobachten ist, durch nachdenkliche Überlegungen, wie die hier angedeuteten Kritikpunkte, in Grenzen gehalten werden.

Hinweis:
* Ulrich Brand und Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, 224 S., oekom verlag: München 2017. Bezug: Buchhandel
Posted: 30.5.2017

Empfohlene Zitierweise:
Dieter Boris, Imperiale Lebensweise? Das Nord-Süd-Verhältnis re-visited, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 30. Mai 2017 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).

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