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Neuer multidimensionaler Armutsindex

Artikel-Nr.: DE20100726-Art.37-2010

Neuer multidimensionaler Armutsindex

20 Jahre Human Development Report

Vorab im Web - Obwohl der Bericht über die menschliche Entwicklung in diesem Jahr erst Ende Oktober erscheinen wird, haben die Oxford Poverty and Human Development Initiative (OPHI) der Universität Oxford und das Human Development Report Office des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) schon jetzt ihren neuen Armutsindex vorgestellt, der ein „multidimensionales“ Bild der Menschen in absoluter Armut vermitteln soll. Ob damit Entwicklungshilfe wirksamer eingesetzt werden kann, muss sich jedoch erst zeigen, schreibt Rainer Falk.

Die neue Maßzahl, der Multidimensionale Armutsindex (MPI: Multidimensional Poverty Index), wurde von der OPHI mit Unterstützung des UNDP entwickelt und wird in der kommenden Jubiläumsausgabe des Human Development Report (HDR), dem 20. Bericht, enthalten sein. Der MPI wird den Human Poverty Index ersetzen, den die Human Development Reports seit 1997 einmal pro Jahr veröffentlichten.

* Ein exakteres Bild der Armut

Der MPI bewertet eine Reihe kritischer Faktoren oder Entbehrungen auf der Ebene der Haushalte: vom Zugang zu Bildung und Gesundheit bis hin zu Besitz und Dienstleistungen. Zusammengenommen sollen diese Faktoren ein vollständigeres Bild der akuten Armut vermitteln als die einfachen Einkommensindices, etwa der Zahl von weniger als 1,25 Dollar, mit denen die absolut Armen auskommen müssen und die in den Simulationen der Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) Verwendung finden. Der MPI-Index zeigt Natur und Ausmaß von Armut auf verschiedenen Ebenen – von der Haushalts- über die regionale und nationale bis hin zur internationalen Ebene. Bislang wurde dieser multidimensionale Ansatz in Mexiko angewendet; in Chile und Kolumbien wird derzeit darüber nachgedacht, ihn zu übernehmen.

Für die Direktorin des OPHI, Sabina Alkire, die den MPI zusammen mit James Foster von der George Washington University entwickelte, funktioniert der neue Index wie eine hochauflösende Linse, die ein lebendiges Spektrum von Herausforderungen sichtbar macht, denen sich die armen Haushalte gegenüber sehen. Das Human Development Report Office hat sich zur Zusammenarbeit mit der OPHI entschlossen, um die internationale Diskussion um die praktische Anwendbarkeit dieses multidimensionalen Ansatzes zur Messung von Armut voranzutreiben. Die Hauptautorin des diesjährigen HDI, Jeni Klugman, will den Index in ihrem Bericht haben, weil sie als hochinnovativen Ansatz sieht, um akute Armut quantitativ zu messen. Er ermögliche eine umfassendere Messung von Armut als die traditionellen Dollar-pro-Tag-Formeln und sei eine wertvolle Ergänzung des Instrumentenkastens zur Untersuchung der breiteren Aspekte des menschlichen Wohlergehens, wie dem Human Development Index von UNDP oder anderen Indices der Ungleichheit in der Bevölkerung oder zwischen den Geschlechtern.

* Mehr Arme als nach MDG-Kriterien

Die OPHI-Forscher haben Daten aus 104 Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von 5,2 Milliarden Menschen analysiert (das entspricht 78% der Erdbevölkerung). Rund 1,7 Milliarden Menschen in den betreffenden Ländern – ein Drittel ihrer Gesamtbevölkerung – leben nach dem MPI in multidimensionaler Armut. Das übersteigt die Zahl von 1,3 Milliarden Menschen, die in denselben Ländern schätzungsweise mit 1,25 Mrd. Dollar oder weniger auskommen müssen, also diejenigen, die allgemein als „extrem“ Arme angesehen werden.

Der MPI erfasst auch besondere und breitere Aspekte von Armut. Zum Beispiel sind in Äthiopien nach dem MPI 90% der Bevölkerung arm, während ausschließlich unter Einkommenskriterien nur 39% als in „extremer Armut“ lebend einklassifiziert werden. Auf der anderen Seite leben 89% der Tansanier in extremer Einkommensarmut, während 65% nach dem MPI als arm gelten. Der MPI erfasst Mängel direkt – etwa bei Gesundheit und Bildung oder zentralen Dienstleistungen, wie Wasser, Sanitäreinrichtungen und Elektrizitätsversorgung. In einigen Ländern werden diese Ressourcen frei oder zu niedrigen Kosten zur Verfügung gestellt; in anderen können sie sich selbst viele arbeitende Menschen mit Einkommen nicht leisten.

Die Hälfte der nach dem MPI armen Menschen der Welt lebt in Südasien (51% oder 844 Millionen) und ein Viertel in Afrika (28% oder 458 Millionen). Niger weist unter allen Ländern die größte Armutsintensität und –häufigkeit auf. Dort gelten 93% der Bevölkerung als „MPI-arm“.

* Armut trotz hoher Wachstumsraten

Selbst in Ländern mit starkem Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren belegt die MPI-Analyse die Fortexistenz akuter Armut. Indien ist hier ein schlagendes Beispiel. Dort gibt es in acht Staaten allein mehr MPI-Arme (421 Millionen in Bihar, Chhattisgarh, Jharkhand, Madhya Pradesh, Orissa, Rajasthan, Uttar Pradesh und West Bengal) als in den 26 ärmsten Ländern Afrikas zusammengenommen (410 Millionen). Auch innerhalb der Länder zeigt der MPI eine große Vielfalt: Nairobi hat das gleiche Niveau an MPI-Armut wie die Dominikanischen Republik, während Kenias ländlicher Nordosten nach MPI-Maßstäben ärmer ist als der Niger.

Der kürzlich veröffentlichte Bericht der Vereinten Nationen zu den Millennium-Entwicklungszielen (s. nachstehenden Beitrag) belegt in der Sicht der OPHI-Forscher, dass die MDGs nur dann voll erreicht werden können, wenn die Bedürfnisse der nach Geografie, Alter, Geschlecht oder Ethnie am meisten Benachteiligten ins Auge gefasst werden. Der MPI identifiziere die anfälligsten Haushalte und Gruppen und helfe, die Mängel, unter denen sie leiden, exakt zu identifizieren, sagen die Erfinder des neuen Index. Insofern könnte der Index auch helfen, wenn Regierungen und Entwicklungsagenturen ihre Hilfe stärker auf diese besonderen Gemeinschaften ausrichten wollen. Das stimmt, zeigt aber zugleich, dass es eines ausgewiesenen politischen Willens bedarf, wenn sich neue wissenschaftliche Hilfsmittel in der Praxis niederschlagen sollen.

Hinweis:
* Weitere Informationen zum Multidimensionalen Armutsindex können auf folgender Website gefunden werden: www.ophi.org/uk

Veröffentlicht: 15.7.2010

Empfohlene Zitierweise: Rainer Falk, Neuer multidimensionaler Armutsindex. 20 Jahre Human Development Report, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, Nr. 07/2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).