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Systemwechsel und Wirtschaftspolitik in Südamerika

Artikel-Nr.: DE20100207-Art.05-2010

Systemwechsel und Wirtschaftspolitik in Südamerika

Die ökosoziale Wende steht noch aus

Vorab m Web – Dank rosaroter Welle und dem Rohstoffboom der letzten Jahre hat Südamerika die Weltwirtschaftskrise vergleichsweise gut gemeistert. Doch im Regierungshandeln bleibt die Ökologie ein Stiefkind. Eine Übersicht über das nach links verschobene geopolitische Szenario auf dem Kontinent und die schwierige Suche nach Alternativen zur überkommenen Politik zeichnet Gerhard Dilger.

„Brasilien hat getan, was es versprochen hat“, erklärte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva jüngst in seiner Dankesrede an das Weltwirtschaftsforum in Davos, wo er zum „Globalen Staatsmann des Jahres“ gewählt wurde. In den letzten sieben Jahren, so Lula, „sind 31 Millionen Brasilianer in die Mittelschicht aufgestiegen, 20 Millionen haben das Stadium der absoluten Armut hinter sich gelassen. Wir haben unsere ganzen Auslandschulden bezahlt, und heute sind wir Gläubiger statt Schuldner des IWF. Unsere Währungsreserven sind von 38 auf 240 Mrd. Dollar hochgeschnellt.“

* Kontinentaler Linkstrend nach dem Debakel

In der Tat, politisch und sozial sind Brasilien und Südamerika im vergangenen Jahrzehnt vorangekommen. Die Enttäuschung über das neoliberales Desaster der 1990er Jahre spülte einer ganze Reihe von fortschrittlichen Staatsoberhäuptern ins Amt: Seit 1999 amtiert Hugo Chávez in Venezuela, seit 2003 Lula in Brasilien, Néstor Kirchner und seine Frau Christina regieren fast genauso lang in Argentinien. Die uruguayische Frente Amplio („Breite Front“) ist seit 2005 am Ruder, Evo Morales in Bolivien seit 2006, der Ekuadorianer Rafael Correa seit 2007 und Fernando Lugo in Paraguay seit 2008.

Gegen den kontinentalen Trend halten sich rechte Regierungen nur im Bürgerkriegsland Kolumbien, in Peru und – ab März – wieder im neoliberalen Musterland Chile, wo der Milliardär Sebastián Piñera die Concertación beerbt, das seit 1990 regierende Bündnis zwischen Christ- und Sozialdemokraten. Es war die einzige Niederlage einer Mitte-Links-Regierung im Südamerika der Nullerjahre – und das, obwohl es Präsidentin Michelle Bachelet dank ihres beherzten antizyklischen Gegensteuerns im Zuge der Weltwirtschaftskrise zuletzt auf eine Rekordzustimmung von 80% gebracht hatte.

Die Links- und Mitte-Links-Regierungen profitierten vom Rohstoffboom, der ihnen von 2003 bis 2008 unerhörte Wachstumsraten bescherte. Alle, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, erhöhten die Staatsquote an den Rohstoffeinkünften und weiteten damit die Sozialprogramme aus, was durchweg von den WählerInnen honoriert wurde.

Neben Brasilien konnte sich auch Argentinien aus dem Würgegriff des IWF lösen. Doch der Preis war hoch: Statt des Wiederaufbaus nationaler Industrien, der Zeit braucht, hatten die Exporte mineralischer und agrarischer Primärguter Priorität – und auf dieser Ebene ist auch kein Ende der neokolonialen Arbeitsteilung in Sicht.

* Ressourcennationalismus allenthalben

In Chile wehren sich die Mapuche gegen große Forstbetriebe, in der argentinischen Provinz Neuquén gegen Ölfirmen. In Uruguay drängen Papiermultis auf die Ausweisung weiterer Flächen für Eukalyptusplantagen und den Bau neuer Zellstoffwerke. Brasilianische Viehzuchtbetriebe roden den Urwald in der weitläufigen Chaco-Ebene Paraguays, venezolanische Staatsfirmen wollen auf Indianerland an der Grenze zu Kolumbien Kohle fördern.

In Brasilien geht der wiederbelebte Ressourcennationalismus mit großzügiger Förderung ausländischer, vor allem aber einheimischer Bau-, Bergbau- oder Agromultis einher. Die staatlichen Stromfirmen und der Mischkonzern Petrobras sind über die Verteilung von Arbeitsplätzen oder Werbeetats wichtige Apparate zur Sicherung politischer Macht. Zudem sind Lula und viele seiner Mitarbeiter überzeugte Anhänger eines nachholenden Wachstumsdenkens, das es in den Industrieländern in dieser ungebrochenen Form nur noch selten gibt.

Eines von Lulas Herzensanliegen ist denn auch die „physische Integration“ Südamerikas durch Wasser- und Landstraßen bis zu Großstaudämmen. In der bereits im Jahr 2000 beschlossenen IIRSA-Initiative ist der Bau von zehn Verkehrsachsen vorgesehen, die vor allem dem Rohstoffexport nach Asien dienen sollen. Besonders davon profitieren werden brasilianische Konzerne. Widerstand dagegen kommt nicht von den Regierungen Boliviens oder Venezuelas, sondern vor allem aus den sozialen Bewegungen und den direkt betroffenen Gemeinschaften.

Schließlich ist die Landwirtschaft ein zentraler Schauplatz von Ressourcenkonflikten. Immer noch ist die Kluft zwischen Arm und Reich in Lateinamerika tiefer als anderswo auf der Welt. Ein Indikator ist die ungleiche Landverteilung, an der auch die diversen Agrarreformen der letzten Jahrzehnte wenig geändert haben. Typisch sind die Verhältnisse in Brasilien, wo sich der Großgrundbesitz modernisiert hat: In den Wachstumsbranchen wie Gensoja oder Ethanol kommt das meiste Kapital oft von den internationalen Finanzmärkten.

* Staat immer noch Spielball der Wirtschaft

Bolivien und Uruguay wiesen 2009 die höchsten Wachstumsraten in ganz Amerika auf. Die Politik der Frente Amplio erinnert dabei am ehesten an die alte Sozialdemokratie europäischen Zuschnitts und kann dabei an eigene Traditionen anknüpfen. Morales hingegen steht vor der ungleich schwierigeren Aufgabe, auf dem Scherbenhaufen seiner Vorgänger etwas ganz Neues aufzubauen.

In Venezuela und Ekuador wird ein ähnlicher Systemwechsel auf institutioneller Ebene angestrebt, angefangen mit der Verabschiedung neuer Verfassungen und Verfassungsreformen. Dabei spielten machtpolitische Fragen, vor allem die Möglichkeit zur Wiederwahl der Präsidenten, eine zentrale Rolle. So kann Hugo Chávez unendlich wiedergewählt werden, doch in elf Jahren ist es ihm kaum gelungen, ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen. Und die Abhängigkeit Venezuelas vom Erdöl hat sich sogar noch vertieft.

Nach wie vor sei der Staat von großen Wirtschaftsinteressen „entführt“, beklagte João Pedro Stedile von der brasilianischen Landlosenbewegung MST auf dem Weltsozialforum 2010 – das Volk wähle zwar den Präsidenten, aber nicht den Chef der Zentralbank. Zur gleichen Zeit gelang es Cristina Fernández de Kirchner nach wochenlangem Gerangel, einen Wechsel an der Spitze der argentinischen Zentralbank herbeizuführen.

Eine Landreform hat die brasilianische Oligarchie ebenso verhindert wie eine politische Reform. Lula hat seine Regierungskoalition bis weit nach rechts geöffnet. Das demotiviert die eigenen Anhänger und eröffnet der Rechten neuen Chancen: Für die Präsidentschaftswahl 2010 kann sich José Serra von den (konservativen) Sozialdemokraten gute Chancen ausrechnen.

Noch überwältigender ist die rechte Hegemonie in Parlament, Justiz und Medien im benachbarten Paraguay, wo bereits über eine „honduranische Lösung“ gegen Ex-Bischoff Fernando Lugo spekuliert wird. Lugos größter Erfolg war es bisher, mit Brasilien einen höheren Preis für den Strom aus dem binationalen Megastaudamm Itaipú ausgehandelt zu haben.

* Alternativen

So gehört auch das veränderte geopolitische Szenario zu den positiven Entwicklungen des letzten Jahrzehnts. Gegen beträchtliche innenpolitische Widerstände stärkte Lula die Allianzen mit seinen linken Nachbarn, doch die Umsetzung ehrgeiziger Projekte bleibt schwierig: Bis heute funktioniert weder die „Bank des Südens“, noch ist die Mercosur-Mitgliedschaft Venezuelas unter Dach und Fach. Dagegen kommt das linke Handelsbündnis der „Bolivarianischen Americas-Initiative“ (ALBA) voran: Anfang Februar bezahlte Kuba einen Reislieferung mit der neuen ALBA-Währung Sucre.

Während die Ökologie auf Regierungsebene immer noch ein Stiefkind ist, zeichnete sich auf den Weltsozialforen in Belém und in Porto Alegre bereits unter den Stichworten „Gutes Leben“ und „Gemeingüter“ die öko-soziale Agenda der nächsten Jahre ab. „Eine moderne Linke muss sich auf eine Ökologie für die Armen stützen“, ist Ekuadors Ex-Außenminister Fander Falconí überzeugt. „Jedes Projekt des Wandels muss von der Umwelt ausgehen.“

Gerhard Dilger ist Südamerika-Korrespondent der tageszeitung (taz) und lebt in Porto Alegre.
Veröffentlicht: 7.2.2010

Empfohlene Zitierweise: Gerhard Dilger, Systemwechsel und Wirtschaftspolitik in Südamerika, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Luxemburg, W&E 02/Februar 2010 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).