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TTIP: Die große Fehlkalkulation

Artikel-Nr.: DE20140212-Art.05-2014

TTIP: Die große Fehlkalkulation

Transatlantische Partnerschaft auf dem Prüfstand

Vorab im Web – Derzeit verhandeln die EU und die USA ein transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP: Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft). Die EU-Kommission bewirbt das TTIP mit Verweis auf Wachstums-, Einkommens- und Beschäftigungszuwächse. Sie stützt sich dabei im Wesentlichen auf zwei Auswirkungsstudien (CEPR 2013 und EC 2013; s. Hinweise). Doch deren Ergebnisse sind nur von begrenzter Aussagekraft, wie Stefan Beck und Christoph Scherrer zeigen.

Die Studien des Londoner Centre for Economic Policy Research und – darauf basierend – der Impact Assessment Report der Kommission unterscheiden Szenarien, die zwischen der reinen Beseitigung von Warenzöllen, einem darüber hinaus gehenden Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse um rund 25% und einem transatlantischen Binnenmarkt differenzieren. Bezogen auf 2027 (!) rechnet die Studie der Kommission je nach Szenario mit einem zusätzlichen Wachstum zwischen 0,27% und 0,48% des realen Nationaleinkommens für die EU und zwischen 0,21% und 0,39% für die USA (EC 2013: 36f.).

● Bescheidene Zuwächse

Diese Einkommenszuwächse von maximal einem halben Prozentpunkt nehmen sich trotz aller Werbung angesichts des Zeitraums ihrer Realisierung doch eher bescheiden aus. Bis dahin sind die Beschäftigungs- und Einkommensgewinne marginal und könnten durch kurz- und mittelfristige Anpassungsverluste sogar aufgewogen werden. Bilateral betrachtet ist das Handelsvolumen zwischen der EU27 und den USA eher zu klein, um nennenswerte konjunkturelle Effekte in beiden Wirtschaftsräumen auszulösen, daran dürften auch die erwarteten Handelszuwächse wenig ändern (Behringer/Kowall 2013; Stephan/Löbbing 2013). Hier interessieren uns jedoch weniger die Ergebnisse als die angewandte Methode.

● Kritik der ökonomischen Nutzenkalkulationen

Ein erster Kritikpunkt betrifft die Vernachlässigung der Verteilungsfrage. Die negativen Effekte dieser – im Übrigen auch die Importe begrenzenden – Umverteilung auf das Wachstum der deutschen und der europäischen Wirtschaft können größer eingeschätzt werden als die zu erwartenden Zuwächse infolge eines transatlantischen Abkommens (vgl. z.B. Feigl/Zuckerstätter 2012).

Die berechneten Einkommensgewinne sind aber nicht nur gering, sie beruhen außerdem auf einseitigen und zum Teil wenig realistischen Annahmen und Modellen. Zunächst ist beiden Studien eine einseitige Behandlung von Regulierungen als nicht-tarifäre Handelshemmnisse gemeinsam. Dadurch wird jedoch der regulative – z.B. ökologische oder soziale – Nutzen bestehender Regeln unterschlagen und ihre gesellschaftliche Funktion auf die Handelseffekte reduziert, d.h. die möglichen Schäden einer Deregulierung werden nicht quantifiziert. Gleiches gilt für die in den Studien vernachlässigten negativen Effekte auf den Absatz und die Beschäftigung in Wirtschaftszweigen, die durch Handelsumlenkungen, vor allem innerhalb der EU, oder erhöhte Importkonkurrenz betroffen sind. Die Annahme, dass diese Effekte längerfristig überkompensiert werden und deshalb nicht ins Gewicht fallen, vernachlässigt auf der negativen Seite mögliche dynamische Wirkungen, die aber umgekehrt hinsichtlich möglicher Produktivitätszuwächse und der Wettbewerbsfähigkeit als bedeutsam betrachtet werden. Zudem sind je nach Regelung, die für die bilaterale Begünstigung von Exporten erforderlichen Herkunftszertifikate mit Kosten verbunden, die insbesondere im Fall kleiner Unternehmen die Kosteneinsparungen infolge des Abkommens deutlich schmälern können.

● Kritik der Gleichgewichtsmodelle

Problematisch sind darüber hinaus die so genannten computergestützten allgemeinen Gleichgewichtsmodelle (CGE: Computable General Equilibrium-Models), die den Studien des CEPR und der Kommission zugrunde liegen. Diese Modelle beruhen auf teilweise geschätzten oder angenommenen Parametern für die Berechnung der Handelsdynamik als Folge eines Abbaus tarifärer und nicht-tarifärer Regulierungen. So basieren beispielsweise die unterstellten (den Handel behindernden) Kosten nicht-tarifärer Regulierungen auf per Umfrage ermittelten subjektiven Schätzungen von Unternehmen, die anschließend quantifiziert wurden. Nicht näher erläutert sind zudem die lediglich im Anhang der Kommissions-Studie ausgewiesenen Nachfrageelastizitäten, die entscheidend dafür sind, wie stark die Nachfrage und damit das potentielle Exportwachstum auf Kosten- bzw. Preisveränderungen reagiert.

In den implizit angenommenen Außenhandelsmodellen führt eine höhere unterstellte Preiselastizität der Nachfrage automatisch zu größeren Wohlfahrtseffekten (vgl. Mitra-Kahn 2008: 66ff.; Taylor/von Arnim 2006). Vor allem im Dienstleistungsbereich werden die angenommenen Elastizitäten allerdings häufig überschätzt (Hay 2011).

Des Weiteren basieren die CGE-Modelle auf einer Reihe von Annahmen, die für neoklassische Modelle zwar typisch sind, zugleich jedoch die reale Ökonomie in unrealistischer Weise vereinfachen. Zu diesen Annahmen zählen beispielsweise ein (weitgehend) perfekter Wettbewerb, vereinfachende Produktionsfunktionen, repräsentative nutzenmaximierende Wirtschaftseinheiten, eine hohe inländische Faktormobilität oder ausgelastete Kapazitäten. Die Faktoreinkommen entsprechen der jeweiligen Grenzproduktivität und die Investitionen werden durch die laufenden Ersparnisse bestimmt.

Als Konsequenz dieser Annahmen sind die Ergebnisse der Modelle in verschiedener Hinsicht verzerrt. Einerseits werden makroökonomische Anpassungen infolge einer vollständigen Weitergabe von Kostensenkungen überschätzt. Andererseits werden nachfragerelevante Wirkungen eher unterschätzt. Zu Letzteren gehören unter anderem entgangene Zolleinnahmen, Verteilungseffekte, Leistungsbilanzungleichgewichte und unterausgelastete Kapazitäten.

Infolge der Annahmen und Begrenzungen der Modelle kann schließlich vermutet werden, dass insbesondere die Beschäftigungseffekte in den Studien eher zu positiv ausfallen. So werden beispielsweise Verlagerungs- oder Substitutionseffekte zwischen Intra- und Extra-EU-Handel ebenso wie intra-sektorale Arbeitsplatzeffekte vernachlässigt (vgl. CEPR 2013: 77, FN 17). Dass schließlich die Arbeitsplatzmobilität im Wesentlichen den realisierbaren Lohnsteigerungen folgt, d.h. regelmäßig mit positiven Einkommens- und Nachfrageeffekten verbunden ist, entspricht ebenso wenig den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte.

● Fazit: Kein Beitrag zur Krisenüberwindung

Die von der EU-Kommission zur Bewerbung des TTIP herangezogenen Studien lassen nur geringe Einkommenszuwächse erwarten. Zudem vernachlässigen sie die ggf. positiven Wirkungen bestehender Regulierungen, die lediglich als kostenverursachende Handelshemmnisse betrachtet werden. Die verwendeten Modelle tendieren darüber hinaus dazu, mögliche positive Wettbewerbseffekte zu über- und negative Verteilungs-, Umlenkungs- und Nachfrageeffekte zu unterschätzen. Auf der Grundlage dieser Studien ist somit nicht zu erwarten, dass ein transatlantisches Handelsabkommen einen nennenswerten Beitrag zur Überwindung der krisenbedingten Wachstums- und Beschäftigungsschwäche in Europa leisten kann. Hierfür wäre vielmehr eine Abkehr von den vorherrschenden Austeritäts- und Umverteilungspolitiken erforderlich.

Dr. Stefan Beck, Politologe, lehrt an der Universität Kassel im Studiengang Global Political Economy. Prof. Dr. Christoph Scherrer, Volkswirt und Politologe, ist Mitherausgeber von W&E, Professor für „Globalisierung & Politik“ an der Universität Kassel und Geschäftsführender Direktor des International Center for Development and Decent Work. Ihr Artikel basiert auf einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie, die demnächst veröffentlicht wird.

Hinweise:
* Behringer, J./Kowall, N. (2013): Außenhandel der USA. Eine regionale und sektorale Analyse; IMK Report 85, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Düsseldorf.
* CEPR (2013): Reducing Transatlantic Barriers to Trade and Investment. An Economic Assessment; Final Project Report, Centre for Economic Policy Research, London.
* EC – European Commission (2013): Impact Assessment Report on the future of EU-US trade relations; Commission Staff Working Document, SWD(2013) 68, Strasbourg.
* Feigl, G./Zuckerstätter, S. (2012): Wettbewerbs(des)orientierung; Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft Nr. 117; Wien: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien.
* Hay, C. (2011): The ‘dangerous obsession’ with cost competitiveness … and the not so dangerous obsession with competitiveness; in: Cambridge Journal of Economics, Vol. 36, Issue 2, S. 463-479.
* Mitra-Kahn, B. H. (2008): Debunking the Myth of General Equilibrium Models; SCEPA Working Paper 2008-1, Schwartz Center for Economic Policy Analysis, The New School for Social Research, New York.
* Stephan, S./Löbbing, J. (2013): Außenhandel der EU27. Eine regionale und sektorale Analyse; IMK Report 83, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Düsseldorf.
* Taylor, L./von Arnim, R. (2006): Modelling the Impact of Trade Liberalisation. A Critique of Computable General Equilibrium Models; Oxfam International Research Report.

Veröffentlicht: 12.2.2014

Empfohlene Zitierweise:
Stefan Beck/Christopg Scherrer, TTIP: Die große Fehlkalkulation. Transatlantische Partnerschaft auf dem Prüfstand, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 12. Februar 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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