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Überwindung der globalen Gesundheitslücke

Artikel-Nr.: DE20080929-Art.34-2008

Überwindung der globalen Gesundheitslücke

WHO-Bericht präsentiert radikale Reformagenda

Vorab im Web - Wie jüngste Bestandsaufnahmen zeigen, sind die Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) bis zum Jahr 2015 in weiten Teilen des Südens kaum noch zu erreichen. Dies gilt für die Armutsentwicklung und die Zurückdrängung des Hungers ebenso wie für die gesundheitlichen Ziele. Der Bericht der WHO-Kommission über die sozialen Determinanten von Gesundheit (CSDH; s. Hinweis), den Kai Mosebach vorstellt, setzt Kontrapunkte, die neuen Schwung in die Debatte bringen könnten.

Die direkt gesundheitlichen MDG-Ziele bestehen zum einen in der Reduzierung der Kindersterblichkeit, zum anderen in der Verbesserung der Müttergesundheit, aber auch in der Bekämpfung hochprävalenter und tödlich verlaufender Infektionskrankheiten, insbesondere HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose.

Die Integration der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den MDG-Prozess führte im Jahr 2000 zur Gründung der Commission on Macroeconomics and Health (CMH). Initiatorin war die damalige Generaldirektorin der WHO, die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Als Vorsitzender fungierte der damalige Harvard-Ökonomen Jeffrey Sachs. Das Ziel der CMH war zu zeigen, dass „Investitionen in die Gesundheit“ in Entwicklungs- und Schwellenländern eine Grundvoraussetzung für höheres Wachstums darstellen. Die CMH verwies damit – zugespitzt formuliert – auf den neoklassisch begründbaren Zusammenhang, dass Krankheit arm mache, indem Wachstum verhindert werde.

* Jenseits von Ökonomismus und Medikalisierung

Einen im Grunde diametral entgegengesetzten Ansatz verfolgt die im Jahr 2005 vom damaligen Generaldirektor der WHO, dem Südkoreaner Dr. Jong-Wook Lee, errichtete Commission on Social Determinants of Health (CSDH), die am 26. August 2008 ihren Abschlussbericht vorlegte, pünktlich zum 30. Jahrestag der Deklaration von Alma-Ata, die als erstes internationales Dokument das Menschenrecht auf eine universelle und partizipatorische Gesundheitsversorgung festhielt. Statt ökonomistisch den wachstumspolitischen Nutzen gesunder Menschen in das Zentrum der internationalen Gesundheitspolitik zu stellen, beharrt die CSDH zu Recht auf dem evidenzbasierten Standpunkt, dass Krankheit sozial bedingt ist, also Armut und andere soziale Bedingungen krank machen. Der Gegensatz zum mehr oder weniger medikalisierenden Ansatz der CMH wird deutlich in der rhetorischen Frage auf den Präsentationsfolien über den Abschlussbericht: „Why treat people ...(and) ... then send them back to the conditions that made them sick?“

Vorsitzender der CSDH war der renommierte britische Medizinsoziologe Sir Michael Marmot, der auch in England einer ähnlichen Kommission geleitet hatte. Ausgangspunkt der CSDH war nicht nur die höchst unterschiedliche Lebenserwartung in den Ländern der Erde, sondern insbesondere auch die höchst ungleichen, sozial stratifizierten Verteilungsmuster. Es ist eine medizinsoziologische Binsenweisheit, dass Sterbewahrscheinlichkeit und Krankheitsverteilung ebenso wie soziale Risikofaktoren und Gesunderhaltungsressourcen ungleich zum Schaden sozial benachteiligter Gruppen und Schichten verteilt sind.

Die Ursachen solcher krankmachenden Verhältnisse liegen für die CSDH in der „ungleichen Verteilung von Macht, Einkommen, Gütern und Dienstleistungen, in globaler und nationaler Perspektive“. Diese strukturell ungleichen Verteilungsmuster führen – über ungleiche Lebens- und Gesundheitschancen sowie die individuellen und gemeinschaftlichen Lebensweisen der Menschen – zu sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit.

Kindersterblichkeit unter 5 pro 1000 in Haushalten


Die Aufgabe der CSDH bestand darin, auf globaler Ebene die verfügbare Evidenz zu synthetisieren und Vorschläge zum Abbau des als „Health Gap“ bezeichneten Zustands der Ungleichverteilung von Gesundheitschancen zwischen dem „Norden“ und dem „Süden“ sowie innerhalb der jeweiligen Länder zu erarbeiten. Hierzu errichtete die CSDH ein Netzwerk aus Forschungsgruppen, Partnerländern und zivilgesellschaftlichen Organisationen rund um die WHO. Die umfangreichen Hintergrundpapiere, Gruppenberichte wurden schließlich in dem Abschlussbericht zusammengefasst und basieren auf einer dreistufigen Strategie zur Schließung der gesundheitlichen Lücke in einer Generation.

* Dreistufige Strategie

Erstens empfiehlt die CSDH, die alltäglichen Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Hierzu gehören gerechte Lebensbedingungen von Beginn des Lebens an mit Hilfe von Kinderförderungsprogrammen und unentgeltlicher Schulbildung sowie die Entwicklung eines kohärenten multilateralen Kinderförderungsprogrammes. Um den krankmachenden Wirkungen von (chaotischen) Urbanisierungsprozessen zu begegnen, fordert die Kommission, gleiche Gesundheitschancen in den Städteplanungsprozess einzubinden, die Gründe für armutsbedingte Stadtflucht in den ländlichen Gebieten zu beseitigen und durch wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen in der Stadt- und Regionalplanung den Auswirkungen von ökologischer Degradation und des Klimawandels auf Städte und Länder zu begegnen.

Ungesunden Arbeits- und Erwerbsbedingungen soll mit der Bereitstellung von fairen (Einhaltung internationaler Arbeits- und Sozialstandards), partizipatorischen und ausreichenden Arbeitsplätzen und der Verringerung von Stress und Giftexposition am Arbeitsplatz begegnet werden. Sozialpolitischer Schutz in allen Lebenslagen in universeller Weise, insbesondere im Hinblick auf prekäre Arbeits- und Lebenssituationen einerseits und die Sicherstellung einer universellen öffentlichen Gesundheitsversorgung andererseits, sollen die Lebens- und Arbeitsbedingungen gesundheitlicher gestalten.

* Neuerfindung der Global Governance

Zweitens sollen die strukturellen sozialen Ungleichheiten, d.h. die Ungleichverteilung von Macht, Einkommen und sozialen Handlungsressourcen verändert werden. Ein wesentliches Instrument hierfür sieht der CSDH-Bericht in der Implementierung von Health Impact Assessments (HIAs), d.h. der Integration von potenziellen Gesundheitswirkungen in die Formulierung und Implementierung staatlicher Politik. Denn jede nationale Politik hat eine potenzielle (negative oder positive) gesundheitliche Wirkung. Entsprechend müssen intersektorale Politikinitiativen etabliert werden.

Entscheidend für die Durchsetzung sowohl der og. Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen von Menschen als auch einer entsprechend ausgerichteten intersektoralen Gesundheitspolitik ist jedoch die Bereitstellung ausreichender öffentlicher Finanzmittel. Hier plädiert die CSDH für die 0,7%-Regelung in der internationalen Entwicklungshilfe, hält aber auch den Aufbau eines progressiv ausgerichteten öffentlichen Steuersystems in Entwicklungs- bzw. Schwellenländern und die gleichmäßige interne Verteilung sowohl der Steuermittel als auch der internationalen Finanzhilfe für zentral. Zudem empfiehlt sie die Ausweitung der internationalen Maßnahmen zum Schuldenerlass.

Im Gegensatz zum neoliberalen Standardmodell verweist die CSDH auf die zentrale Rolle einer öffentlich finanzierten Infrastruktur und der Existenz eines öffentlichen Dienstes, analog zum Entwicklungsweg der reichen Länder des Nordens. Zudem anerkennt sie die zentrale Rolle des Staates für Grundleistungen der Bevölkerung sowie eine konsequente staatliche Regulierung des privaten Sektors an. Darüber hinaus hält sie den Vorzeigecharakter des öffentlichen Sektors hinsichtlich der Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards für wichtig und warnt vor schädlichen Handels- und Investitionsabkommen im Prozess der ökonomischen Globalisierung.

Einen wichtigen Ansatzpunkt zur Veränderung der strukturellen Ungleichverhältnisse sieht die CSDH weiter in der Realisierung von Geschlechtergerechtigkeit. Die Einebnung ungleicher Arbeits- und Lebensbedingungen zwischen den Geschlechtern ist zentral für die Verringerung der gesundheitlichen Lücke, nicht nur für Frauen, sondern auch für die Verbesserung der frühen Lebensbedingungen eines jeden Kindes. Mit Nachdruck betont die CSDH die enorme Bedeutung des politischen Empowerment durch Beteiligung von benachteiligten sozialen Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen („inclusion“) einerseits, aber auch durch die Organisation und Förderung sozialer Bewegungen zur Artikulation von Widerspruch („voice“) andererseits.

Schließlich fordert die CSDH eine multilaterale Strategie zur Umsetzung des Ziels gleicher Gesundheitschancen als eigenständigem Entwicklungsziel unter dem Dach der Vereinten Nationen und unter Federführung der WHO in Zusammenarbeit mit dem UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC). Nur durch die Akzeptanz von interdependenten Beziehungen unter gleichwertigen Partnern sei eine multilaterale Neuerfindung von Global Governance möglich.

Den dritten Ansatzpunkt sieht die Kommission in der Fortführung bzw. Umsetzung technischer Voraussetzungen einer umfassenden, intersektoralen Gesundheitspolitik auf internationaler und nationaler Ebene. Es gelte, ein Beobachtungs- und Handlungssystem zu etablieren, welches die Mitgliedsstaaten der WHO mit dem nötigen Wissen über die Entwicklung von Gesundheitschancen und den sozialen Bedingungen gesundheitlicher Ungleichheit ausstatte. Es wird in diesem letzten strategischen Schritt also abschließend der „technische Unterbau“ des anspruchsvollen Politikprogramms der WHO beschrieben.

* Zurück als gesundheitspolitischer Akteur

Das Ziel, die gesundheitliche Lücke zwischen und innerhalb von Ländern innerhalb einer Generation zu schließen, hält die Kommission für möglich. Allerdings setze dies eine breite „soziale Bewegung für Gesundheit“ voraus. Diese ist freilich kein leichtes Geschäft, und die radikale Sichtweise vieler Gruppenberichte und Hintergrundpapiere verliert sich im Abschlussbericht. Dennoch steckt im CSDH-Bericht viel politische Brisanz, denn in ihm artikuliert sich die WHO wieder als zentraler gesundheitspolitischer Akteur – ein Status, den sie in den 1990er Jahren an die Weltbank verloren hatte, nun jedoch wieder energisch einfordert.

Davon zeugt nicht nur die Betonung eines multilateralen Ansatzes, sondern auch die im Bericht immer wieder geäußerte Kritik an den negativen gesundheitlichen Wirkungen der neoliberalen Globalisierung, auch wenn dieser Begriff selbst natürlich nicht auftaucht. Aber die Kritik an von den Industrieländern betriebenen Handels- und Investitionseinkommen einerseits und die Betonung von günstigen gesundheitlichen Entwicklungen durch wohlfahrtsstaatlich-universelle Inklusion und der Bedeutung des öffentlichen Sektors für gesundheitsförderliche Politiken andererseits sind mehr als nur Nuancen. In der kritischen gesundheits- und entwicklungspolitischen Community, die im englischsprachigen Raum viel verbreiteter ist als hierzulande, sieht der CSDH-Bericht einen kritischen Kontrapunkt gegen die fatalen Wirkungen des Washington Consensus.

Der globalisierungskritische Gesundheitsexperte und ehemalige Mitarbeiter der WHO, David Woodward, weist genau auf diesen tief liegenden Gegensatz hin, wenn er schreibt: „Dies ist eine ausgesprochen radikale Reformagenda. Und im besten Sinne der medizinsoziologischen Forschung wird sie unterstützt durch die breite Evidenz, die von den beteiligten Wissenschaftlern und den Wissensnetwerken bereitgestellt worden ist. Die Kommission mag nicht als Aufgabe gehabt haben, eine neue internationale ökonomische Ordnung zu erarbeiten – aber sie hat überwältigende Gründe dafür zusammengetragen, die von unschätzbarem Wert sind und als Ausgangspunkt genommen werden sollten.“ Auch in der deutschsprachigen Entwicklungsgemeinde sollte der Bericht daher breit rezipiert werden – auch jenseits des engen Zirkels von International Public Health-Aktivisten.

Kai Mosebach ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Soziologie am Fachbereich Medizin der Universität Frankfurt/M. (mosebach@em.uni-frankfurt.de).

Hinweis:
* CSHD, Closing the gap in a generation: health equity through action on the social determinants of health. Final Report of the Commission on Social Determinants of Health, 256 pp, World Health Organization (WHO): Geneva 2008. Bezug über: www.who.int/social_determinants/en/

Veröffentlicht: 29.9.2008

Empfohlene Zitierweise: Kai Mosebach, Überwindung der globalen Gesundheitslücke. WHO-Bericht präsentiert radikalen Reformagenda, Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, Nr. 10/2008 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)