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Und wenn die Erholung nicht stattfindet?

Artikel-Nr.: DE20120909-Art.45-2012

Und wenn die Erholung nicht stattfindet?

Die Weltwirtschaft nach der Großen Rezession

Vorab im Web - Die meisten Politiker und Experten haben ein ausgeprägtes Eigeninteresse daran, bessere Zeiten zu versprechen, vorausgesetzt man folgt ihrem Rat. Die gegenwärtigen weltweiten wirtschaftlichen Probleme haben daran nichts geändert. Ob sich die Diskussion nun auf die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten konzentriert oder auf die eskalierenden Kosten der Staatsverschuldung in Europa oder die plötzlich abnehmenden Wachstumsraten in China, Indien und Brasilien, der mittelfristige Optimismus bleibt an der Tagesordnung, schreibt Immanuel Wallerstein.

Doch was ist, wenn das nicht gerechtfertigt ist? Gelegentlich bricht sich etwas Ehrlichkeit Bahn. Am 7. August schrieb Andrew Ross Sorkin einen Artikel in der New York Times, in dem er „eine direktere Erklärung dafür (anbot), weshalb die Investoren vom Aktienmarkt verschwunden sind: dieser sei ein Verlustgeschäft. Eine ganze Generation von Investoren habe da kein Geld gemacht.“

* Zusammenbrechende Weisheiten

Am 10. August schrieb James Mackintosh ähnlich in der Financial Times: „Die Ökonomen beginnen zu akzeptieren, dass die Große Rezession das Wachstum dauerhaft beschädigt hat… Die Investoren sind noch pessimistischer.“ Und um das zu toppen, brachte die New York Times am 14. August eine Story über die steigenden Kosten des Handels, in der man lesen konnte: Die Investoren „wurden auch von einem Markt vertrieben, der über die letzte Dekade hinweg wegen der Anlageblasen und der Instabilität der Weltwirtschaft keine Gewinne geliefert hat“.

Wie kann es angesichts all der Beobachtungen über die unglaublichen Geldmengen, die einige wenige angehäuft haben, sein, dass der Aktienmarkt ein Verlustgeschäft ist? Eine lange Zeit über bestand eine grundlegende Weisheit darin, dass die Gewinne aus Aktien langfristig – wenn man die Inflation berücksichtigt – hoch seien und vor allem höher als die aus Anleihen. Das war angeblich die Belohnung dafür, dass die Risiken eingegangen wurden, die aus der höheren kurz oder sogar mittelfristigen Volatilität der Aktien resultierten. Die Berechnungen unterscheiden sich, aber im Allgemeinen lagen die Gewinne aus Aktien während des letzten Jahrhunderts über denen aus Anleihen, vorausgesetzt natürlich, man hielt die Aktien.

Was weniger bekannt ist: Dasselbe hundert Jahre lange Niveau der Profite aus Aktien, war mehr oder weniger doppelt so hoch wie der Anstieg des Bruttoinlandprodukts (BIP) – was einige Analysten dazu gebracht hat, dies als Ponzi-Spiel*) zu bezeichnen. Im Endeffekt hat sich ein großer Teil dieses wunderbaren Gewinns aus Aktien in der Periode seit den frühen 1970er Jahren ergeben – eine Ära, die je nachdem als Globalisierung, Neoliberalismus und/oder Finanzialisierung bezeichnet wurde.

* Lange Stagnation nach ruhmreichen Jahren

Doch was passierte tatsächlich in dieser Periode? Wir sollten mit der Feststellung beginnen, dass die Post-1970-Periode auf die Periode der (bei weitem) größten Expansion der Produktion, der Produktivität und der globalen Surplus-Produktion in der Geschichte der kapitalistischen Weltwirtschaft folgte. Die Franzosen bezeichnen diese Periode als „trente glorieuses“ – die 30 ruhmreichen Jahre (1943-1973). Ich dagegen würde von der A-Phase eines Kondratieff-Zyklus sprechen, und denen, die in dieser Periode Aktien hielten, ging es in der Tat sehr gut – ebenso wie den Produzenten im Allgemeinen, den Lohnarbeitern und den Regierungen, was ihre Einkünfte anging. Es schien einen mächtigen Wiederaufschwung des Kapitalismus zu geben, nach der Großen Depression und dem weithin zerstörerischen Zweiten Weltkrieg.

Nur können solche guten Zeiten nicht auf ewig andauern. Zum einen beruhte die Expansion der Weltwirtschaft auf einigen Quasi-Monopolen in den sog. führenden Industrien, die nur so lange andauerten, bis sie von Konkurrenten unterminiert wurden, die schließlich ebenfalls ihren Weg auf den Weltmarkt fanden. Mehr Konkurrenz drückt natürlich die Preise, aber im Gegenzug auch die Profite.

Die Weltwirtschaft trat für die nächsten 30-40 Jahre (1970-2012+) in eine lange Stagnation ein. Diese Periode war durch wachsende Verschuldung (von mehr oder weniger allen) gekennzeichnet, wachsende weltweite Arbeitslosigkeit und einen zunehmenden Rückzug vieler, vielleicht sogar der meisten Investoren von den Aktienmärkten und die Zuflucht in die Sicherheit der Anleihemärkte, insbesondere die US Treasury Bonds.

US Treasury Bonds waren natürlich sicher oder sicherer, aber nicht sehr profitable, außer für eine immer kleinere Gruppe von Banken und Hedge Fonds, die ihre Operationen weltweit manipulierten, ohne irgendeinen Wert dabei zu schaffen. So kamen wir dahin, wo wir heute sind: in eine Welt, die unglaublich polarisiert ist, mit Reallöhnen, die deutlich unter denen der 1970er Jahre liegen (aber immer noch über ihrem Tiefpunkt in den 1940er Jahren), und Regierungseinkünften, die ebenfalls unten sind. Eine Schuldenkrise nach der anderen ließ einen Teil des Weltsystems nach dem anderen verarmen. Und im Ergebnis trocknete das, was wie effektive Nachfrage nennen, weltweit aus, worauf Sorkin Bezug nimmt, wenn er sagt, die Märkte sind nicht länger als Profitquelle zur Kapitalakkumulation attraktiv.

* Vorübergehender Boom in den Schwellenländern

Nun mag man sagen, es habe zumindest die sog. neu-aufstrebenden Länder gegeben, die es besser gemacht haben als die Vereinigten Staaten und Westeuropa und die erst jetzt mehr und mehr in Schwierigkeiten zu geraten scheinen. Die Liste ist lang und fortlaufend. Erst kommt Japan, dann Südkorea und Taiwan, dann Südeuropa und Irland, dann die BRICs (vor allem China, Indien und Brasilien), dann die Türkei und Indonesien, und jetzt (wie einige behaupten) verschiedene afrikanische Staaten. Doch das Problem ist, dass die meisten von diesen lediglich zeitweilig eine positive Entwicklung durchlaufen haben und jetzt ihrerseits in „Schwierigkeiten“ geraten.

Das Kerndilemma ist eines der grundlegenden Widersprüche des Systems. Was das Einkommen der effizientesten Spieler kurzfristig maximiert (wachsende Profitmargen), drückt langfristig die Käufer nieder. Wenn mehr und mehr Menschen und Zonen voll in die Weltwirtschaft integriert werden, bleiben immer weniger Spielraum für „Anpassungen“ oder „Erneuerungen“ und immer weniger Wahlmöglichkeiten für Investoren, Konsumenten und Regierungen.

* Ein Systemproblem…

Man beachte, dass die Gewinne über das letzte Jahrhundert doppelt so noch waren wie der Zuwachs des BIP. Kann sich dies ein zweites Mal wiederholen? Es ist schwer vorstellbar – nicht nur für mich, sondern auch für die meisten potentiellen Investoren auf den Märkten. Das schafft die Engpässe und Zwänge, die wir täglich in den USA, Europa und bald auch in den Schwellenländern beobachten können. Das Niveau der Schulden ist bei weitem zu hoch, um durchhaltbar zu sein.

So gibt es auf der anderen Seite einen machtvollen politischen Ruf nach „Austerität“. Doch Austerität bedeutet im Endeffekt die Kürzung bestehender Leistungen (wie Renten, Gesundheits- und Bildungsausgaben) und auch eine Beschneidung der Rolle der Regierungen, die diese Leistungen garantiert haben. Und wenn die meisten Menschen weniger haben, geben sie offentlichtlich weniger aus, und die Verkäufer finden weniger Käufer, d.h. weniger effektive Nachfrage. Somit wird die Produktion immer weniger profitabel (auch die Gewinne aus Aktien) und die Regierungen immer ärmer.

* …ohne einfachen Ausweg

Es ist ein Teufelskreis, aus dem es keinen leichten oder akzeptablen Ausweg gibt. Das mag in der Tat bedeuten, dass es überhaupt keinen Ausweg gibt. Auf jeden Fall ist es etwas, das einige von uns als strukturelle Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft bezeichnet haben. Diese führt zu chaotischen (und ziemlich wilden Fluktuationen), da das System am Scheideweg steht und wir uns in einem langen und heftigen Kampf darum befinden, welche Art von System auf das jetzige folgen sollte.

Die Politiker und Experten ziehen es vor, dieser Realität und den Wahlmöglichkeiten, die sie aufdrängt, nicht ins Auge zu sehen. Selbst ein Realist wie Sorkin beendet seine Analyse mit der Hoffnung, dass die Öffentlichkeit der Ökonomie in den Arm fallen und „langfristig Vertrauen“ haben wird. Wenn jemand denkt, das sei genug, schenke ich ihm gerne die Brooklyn Bridge.

*) Nach dem Ponzi-Schema, einer Art Schneeballsystem brachte ein „Investor“ gleichen Namens in den USA während der Großen Depression tausende von Sparern um ihre Ersparnisse.

Immanuel Wallerstein ist der vielleicht bekannteste Weltsystem-Theoretiker. Er lehrt am Department of Sociology an der Yale University. Sein Beitrag erschien zuerst auf YaleGlobal.

Veröffentlicht: 9.9.2012

Empfohlene Zitierweise:
Immanuel Wallerstein, Und wenn die Erholung nicht stattfindet? Die Weltwirtschaft nach der großen Rezession, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 9. September 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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