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UNDP/UNCTAD: Blicke auf den Arabischen Frühling

Artikel-Nr.: DE20110316-Art.11-2011

UNDP/UNCTAD: Blicke auf den Arabischen Frühling

Neoliberale Malaise und menschliche Unsicherheit

Vorab im Web – Für UN-Generalsekretär Ban Ki-moon setzen die Volksaufstände in Nordafrika und dem Nahen Osten tiefgreifende Reformen auf die Tagesordnung. Tatsächlich bricht sich in den gegenwärtigen Unruhen auch eine massive soziale Unzufriedenheit Bahn. Mit der Forderung nach politischem Wandel gehen lautstarke Rufe nach Linderung der Armut, mehr und besseren Jobs sowie sozialer Sicherheit, nach Zugang zu erschwinglichen Nahrungsmitteln und einer gerechteren Einkommensverteilung einher. Ein W&E-Feature.

Als 2002 zum ersten Mal der „Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung” erschien, war die arabisch-sprachige Version binnen kurzer Zeit in mehr als einer Million Exemplaren heruntergeladen worden, und im damals noch jungen Fernsehsender Al Jazeera wurde sein Inhalt pausenlos debattiert. Kurze Zeit später fand ein Ministertreffen der Arabischen Liga hinter verschlossenen Türen statt. Dort wurde der Report wegen seines Rufs nach Demokratie, Frauenrechten und Bildung ebenso verurteilt wie aufgrund seiner Warnungen in Bezug auf die Stagnation und die Jugendarbeitslosigkeit in der Region.

* UNDP: Mangel an menschlicher Sicherheit

Dies berichtete kürzlich der damalige Administrator des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) und stellvertretende UN-Generalsekretär Mark Malloch Brown in einem Kommentar für die Financial Times: „Unser Report war von einer Gruppe arabischer Experten verfasst worden, so dass wir nicht wegen westlicher Einmischung angeklagt werden konnten. Als Leiter einer milliardenschweren Entwicklungsagentur war mir dennoch klar, dass es ohne die Initiierung einer geistigen Revolution keine irgendwie geartete Veränderung in der arabischen Region geben würde. Die Menschen waren in einer Art intellektueller Leibeigenschaft gefangen und in einer Politik, die das nationale Leben erstickte.“

So ist es kein Wunder, dass die letzten Wochen für Brown „ein Grund zum Feiern“ sind. „Das ist wirklich ein Arabischer Frühling“, sagt er. „Doch bestenfalls ist es der Anfang einer Befreiung des Denkens und der Menschen.“ In Tunesien und Ägypten seien eine jahrzehntelange Unterdrückung von Arbeiterrechten und gesellschaftliche Ungleichheiten aufgebrochen. Doch die traditionellen Herrscher könnten schon bald in die alten Gewohnheiten zurückfallen und der „Stabilität“ gegenüber dem „demokratischen Chaos“ den Vorzug geben. Vor allem hätten die Profiteure der alten Ordnung, die ägyptischen Generäle beispielsweise, viel zu verlieren. In Bahrain beispielsweise mag dieser Rückschlag zu einem Kompromiss führen, der aus einem Putsch innerhalb der königlichen Familien statt einem vollen Übergang zur Demokratie besteht.

Jedenfalls steht jene „alte Ordnung“ in einem diametralen Gegensatz zu dem Konzept von „menschlicher Sicherheit“, wie es der letzte Arabische Bericht zur menschlichen Entwicklung (Titel: "Herausforderung für die menschliche Sicherheit in den arabischen Ländern“) von 2009 propagierte (s. Box).

Der Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung:
Noch einmal lesen lohnt sich

Der Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung erscheint seit 2002 als regionale Variante des globalen Human Development Reports. Er erscheint ebenfalls unter dem Dach des UNDP, jedoch als unabhängige Publikation, die jeweils von einer Gruppe arabischer Experten erstellt wird. Die letzte Ausgabe von 2009 greift das Thema "menschliche Sicherheit" auf, definiert als "die Befreiung der Menschen von den intensiven, weitreichenden, anhaltenden und umfassenden Bedrohungen, denen ihr Leben und ihre Freiheit ausgesetzt sind".

* Hartnäckige Stagnation

Die Antwort auf die Frage, warum sich gerade in der arabischen Region die Hindernisse für eine menschliche Entwicklung als so hartnäckig erweisen, liegt danach "in der Fragilität der Politik-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Umweltstrukturen der Region, in dem Fehlen einer auf die Menschen ausgerichteten Entwicklungspolitik und in der Verwundbarkeit der Region durch Interventionen von außen. In ihrem Zusammenwirken untergraben diese Faktoren die menschliche Sicherheit ? jenes materielle und moralische Fundament, das das Leben, die Existenzgrundlagen und eine annehmbare Lebensqualität für die Mehrheit sichert. Menschliche Sicherheit ist eine Voraussetzung für menschliche Entwicklung, und da sie in weiten Teilen der arabischen Länder fehlt, werden diese in ihrem Fortschritt behindert."

Für besonders wichtig in diesem Zusammenhang halten die Autoren die Herausforderungen, vor denen die arabische Jugend im Übergang zum Erwachsenwerden steht. Nach dem Bericht sind rund 30% der Jugendlichen in der arabischen Region arbeitslos. Angesichts der Tatsache, dass über 50% der dortigen Bevölkerung unter 24 ist, bedeutet dies, dass bis 2020 51 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, nur um ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosenquote zu vermeiden.

Quelle: UNDP

Statt die Zukunftsfragen menschlicher Entwicklung in der Region treibt einen Teil der veröffentlichten Meinung jedoch bereits wieder die Frage um, ob die entstehenden neuen Regime in Ägypten, Tunesien und anderswo nicht schädlich für die Beziehungen zu Israel, Saudi-Arabien und den USA sein werden. Mark Malloch Brown gibt sich gelassen: „Meine Erfahrung sagt mir, dass sich die Beziehungen zum Ausland im Gefolge solcher Ereignisse in der Regel kaum verändern. Als Cory Aquino 1986 Präsident Ferdinand Marcos von der Macht verdrängte, drohte sie damit, die US-Militärstützpunkte aufzulösen. Was am Ende herauskam, war weit weniger weitreichend: eine gemeinsam vereinbarte Verringerung der US-Präsenz auf den Philippinen, die beiden Regierungen nützte.“

* Nicht Iran 1979, Philippinen 1986 ist das Szenario

Auch an der „inneren Front“ sieht es für Brown eher „gemäßigt“ aus. Hier entspreche das Risiko nicht dem „Iran 1979“, sondern den Philippinen im Jahr 1986, Lateinamerika während der 80er und 90er Jahre oder Osteuropa 1989: „In den meisten dieser Fälle erwiesen sich die Regierung ursprünglich als schwach und unfähig, die wirtschaftlichen Reformen durchzusetzen, die die Situation ihrer Wähler hätten verbessern können.“

Der Grund hierfür: „Es waren Sammlungsbewegungen aus Arbeitern, gesellschaftlichen Aktivisten, Wirtschaftsliberalen und politisch Ausgegrenzten, die zusammenkamen, um zu beenden, wogegen sie opponierten – seien es nun Marcos, diverse Caudillos in Lateinamerika oder in die Jahre gekommene kommunistische Apparatschiks. Wenn das einmal erreicht war, erübrigte sich auch ihr Bündnis. Sie wussten, wogegen sie waren, aber nicht wofür.“

* UNCTAD: Tieferliegende neoliberale Malaise

Was die ökonomische Dimension des Umbruchs betrifft, so sieht die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in einem kürzlich erschienenen Policy Brief Anlass zu einer Abrechnung mit den handels- und wirtschaftspolitischen Ansätzen, die in der Region in den letzten Jahrzehnten verfolgt wurden. Was die ersten Wochen des Jahres 2011 deutlich gezeigt hätten, sei „die Kehrseite einer schnellen und schlecht sequenzierten Liberalisierung, von überhasteten Privatisierungsprogrammen, restriktiver makro-ökonomischer Politik und exportorientierter Wachstumsstrategien“.

„Was kürzlich in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern der Region geschah, ist somit symptomatisch für eine breitere politische (neoliberale) Malaise, die einen schnell sich ausbreitenden gesellschaftlichen Transformationsprozess angestoßen hat. Selbst wenn die Beschleunigung des BIP-Wachstums im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends von höherer Arbeitsproduktivität und abnehmender prekärer Beschäftigung bzw. Armut in Arbeit begleitet waren, sind die Charakteristika des Arbeitsmarktes in Nordafrika seit den 90er Jahren weitgehend unverändert geblieben. Die Partizipationsrate hat sich marginal verbessert und lag Ende des Jahrzehnts bei rund 44% der arbeitsfähigen Bevölkerung. Die registrierte Arbeitslosigkeit ist von rund 15% Ende der 90er Jahre auf beinahe 10% in Afrika und 10-13% in Nordafrika zurück gegangen, verharrte also im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen auf hohem Niveau.“

* Löhne, Exportorientierung und Auslandskapital

„Die begrenzten verfügbaren Daten zur Entwicklung der Lohnquote am Nationaleinkommen lassen vermuten, dass es in den letzten drei Dekaden sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern – mit wenigen Ausnahmen – einen abnehmenden Trend gegeben hat. Bei drei nordafrikanischen, nicht-ölproduzierenden Ländern, für die Daten verfügbar sind (Ägypten, Tunesien, Marokko), bewegte sich die Lohnquote die 33% - bei einer kurzfristigen Verbesserung bis 2005 und einem erneuten Rückgang danach. In Ägypten fiel die Lohnquote kürzlich auf weniger als 25% des Nationaleinkommens.“

Dieser Trend lässt sich nach UNCTAD teilweise durch die größere Arbeitsmarktflexibilität und Exportorientierung erklären, durch die die Lohnzuwächse tendenziell begrenzt wurden, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Der Rückgang der Reallöhne und der Lohnquote in den meisten Entwicklungsländern während der 80er und 90er Jahre war indessen zumeist repressivem Druck auf die Löhne geschuldet, wodurch die lohnabhängig Beschäftigten die Hauptlast trugen, wenn die exportorientierten Industrien auf den internationalen Märkten an Wettbewerbsfähigkeit verloren.

Wie der letzte Trade & Development Report von UNCTAD (???042ae69df913a6e0e???) ausführte, bestand die Wurzel des Problems in einer restriktiven Geldpolitik, einschließlich hoher Zinssätze, um ausländisches Kapital anzuziehen, die wiederum zu einer schwächeren Wettbewerbsfähigkeit durch die Aufwertung des realen Wechselkurses führte, wobei zugleich die inländischen Investitionen durch steigende Kreditkosten entmutigt wurden. Als Ausweg schlagen die UNCTAD-Autoren einen neuen Wachstumspfad vor, der wirtschaftliches Wachstum mit mehr sozialer Gleichheit verbindet.

Veröffentlicht: 28.2.2011

Empfohlene Zitierweise: W&E-Feature, UNDP/UNCTAD: Blicke auf den Arabischen Frühling, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E 03-04/2011 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org).