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Zwischen Sozialreformen und Überlebenskampf

Artikel-Nr.: DE20120928-Art.50-2012

Zwischen Sozialreformen und Überlebenskampf

China in Bewegung

Vorab im Web - China wird in der europäischen Öffentlichkeit meist als Gewinner der Globalisierung wahrgenommen. Wenn nicht von Unterdrückung politischer Freiheiten im autoritären chinesischen System oder von korrupten Kadern berichtet wird, dann gelten die marktwirtschaftlichen Reformen der letzten 30 Jahre in China vielen als Erfolgsgeschichte. Erst in letzter Zeit werden, wie das aktuelle Beispiel des Apple-Zulieferers Foxconn zeigt, auch die zunehmenden Arbeitskämpfe wahrgenommen. Wie sehr China in Bewegung ist, beleuchtet Sabine Ferenschild.

Die Wirtschaft wies über viele Jahre Wachstumszahlen im zweistelligen Bereich auf, die Mittelschicht wuchs in den letzten Jahrzehnten deutlich an, und mit der „Go West“-Strategie investierte die chinesische Führung massiv in die Entwicklung der zentralen und westlichen Regionen, deren ökonomische Entwicklung bisher weit hinter der der Küstenregionen zurückgeblieben war. Zugleich wuchs aber auch die soziale Spaltung der chinesischen Gesellschaft - wie die auseinanderdriftenden Einkommen städtischer und ländlicher Haushalte beispielhaft zeigen (s. Tab. 1). Auf die anhaltende Armut in den ländlichen Regionen reagierten viele Millionen Menschen mit Migration in die Industrieregionen. Diese innerchinesischen Migrationsbewegungen und vor allem die Wahrnehmung der ‚neuen Generation‘ der ArbeitsmigrantInnen und ihrer Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen sind für das Verständnis der sozialen Entwicklung in China zentral. Am Beispiel der Provinz Fujian, der Partnerprovinz von Rheinland-Pfalz, soll dies im Folgenden verdeutlicht werden*).

* Trotz Lohnerhöhungen keine existenzsichernden Löhne

Beginnend mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas vor ungefähr 30 Jahren begann der Zug von vielen Millionen Menschen aus Zentral- und Westchina in die boomenden Küstenregionen, zu denen auch die Provinz Fujian gehört. Mittlerweile leben in Fujian ungefähr acht Millionen ArbeitsmigrantInnen (bei einer Gesamtbevölkerung von 36 Millionen Menschen), die ungefähr zur Hälfte aus anderen chinesischen Provinzen kommen.


Die ArbeitsmigrantInnen verließen ihre Heimatregionen aufgrund fehlender Beschäftigungsmöglichkeit auf dem Land, wegen hoher Abgaben der ländlichen Bevölkerung, wegen niedriger Löhne in der Heimat und wegen besserer Arbeitsmöglichkeiten in den Küstengebieten Fujians. Ihr Durchschnittslohn in den Industriegebieten Fujians lag im Jahr 2005 bei monatlich 600 Yuan (= 73,17 US-Dollar). Seitdem sind die Löhne und auch die staatlichen Mindestlöhne zwar deutlich gestiegen, dennoch sind sie nach wie vor aufgrund steigender Lebenshaltungskosten nicht existenzsichernd. Für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz wären nach Berechnungen der Asiatischen Kampagne für einen existenzsichernden Lohn (Asia Floor Wage Campaign) ein Mindestlohn von 1.842 Yuan nötig (www.asiafloorwage.org), im Mai 2011 lag dieser aber in Fujian zwischen 950 und 1.100 Yuan.

Niedrige Löhne und die Notwendigkeit, die Familien in der Heimat finanziell zu unterstützen, führen zu einem extrem niedrigen Lebensstandard vieler ArbeitsmigrantInnen: Sie leben in Wohnheimen auf dem Fabrikgelände oder in kleinen Zimmern, die sie sich oft noch mit anderen teilen, um das in der Stadt verdiente Geld an die Familie nach Hause zu schicken. Die niedrigen Löhne erhöhen die Bereitschaft vieler Beschäftigter, zahlreiche Überstunden zu leisten.

Mit den Lohnerhöhungen der letzten Jahre und auch einer neuen Generation von ArbeitsmigrantInnen stieg aber dennoch die Zahl derjenigen, die nicht mehr an ihren Herkunftsort zurückkehren, sondern gerne auf Dauer in Fujian leben und arbeiten wollten, auf mehr als ein Drittel der Befragten an (s. Tab. 2). Diejenigen, die sich in der Stadt niederlassen wollten, waren eher weiblich, jung, unverheiratet und besser gebildet als die, die zurückkehren wollten.
Insgesamt haben die letzten Jahre zu einer Ausdifferenzierung der sozialen Lage unter den MigrantInnen geführt. Darauf verweist ihre steigende Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen, die aber zugleich Ausdruck für den Ausschluss der Mehrheit der MigrantInnen von den sozialen Sicherungssystemen ist (s. Tab. 3).



* Arbeitskämpfe für ein besseres Leben in der Stadt

Der Perspektivwechsel der zweiten Generation der ArbeitsmigrantInnen für den eigenen Lebensmittelpunkt ist wichtig, um die Zunahme der Arbeitskämpfe in ganz China zu verstehen (s. Fallbeispiele im Kasten). Lag der Migration der ersten Generation der ArbeitsmigrantInnen seit Beginn der 1980er Jahre noch eine Strategie des Geldverdienens in der Stadt, um damit die Existenz auf dem Land sichern zu können, zugrunde, so sieht die aktuelle Generation ihre Lebensperspektiven auf Dauer in der Stadt – weswegen auch ihre Bereitschaft steigt, für bessere Löhne und Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen zu kämpfen.

Die steigende Zahl an Arbeitskonflikten, mit denen die ArbeitsmigrantInnen sich für ihre Interessen einsetzen, ist eine wesentliche Ursache für die Verbesserung im chinesischen Arbeitsrecht der letzten Jahre und die regelmäßigen, deutlichen Erhöhungen der Mindestlöhne. Die chinesische Führung reagiert mit Verbesserungen im Arbeitsrecht und Mindestlohnerhöhungen also vor allem auf den wachsenden Druck, der von den Beschäftigten ausgeübt wird. Der Einfluss, den internationale Unternehmen, die in China produzieren lassen, auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen über ihre CSR-Politik (corporate social responsibility) ausüben, unterstützt diesen Prozess, ist aber nicht der entscheidende Faktor.

Box: Beispiele für Arbeitskämpfe im Jahr 2012

* In der Provinz Sichuan traten in der ersten Januarwoche 2012 mehrere tausend Beschäftigte eines staatlichen Stahlkonzerns, der Chengdu-Stahl, mit Forderungen nach höheren Löhnen in den Ausstand. Sie knüpften damit an einen erfolgreichen Streik von Beschäftigten in dem staatseigenen Betrieb Sichuan Chemical Industry von Ende Dezember an, die eine Lohnerhöhung von 400 Yuan (= 48,72 Euro) im Monat und eine Jahresendzahlung von 3.000 Yuan (= 365,41 Euro) gefordert hatten.

* In Yantai (Provinz Shandong) legten eine Woche später ca. 1000 Beschäftigte einer Niederlassung des Elektronikherstellers Foxconn mit der Forderung nach gleichen Löhnen die Arbeit nieder.

* In der Provinz Fujian hatten am 2. Januar 2012 hunderte Beschäftigte des größten Schiffsbauers der Provinz, Crown Ocean Shipbuildung, die Arbeit niedergelegt und den Verkehr in Fuzhou, der Provinzhauptstadt, blockiert, um die Lohnrückstände von drei Monaten einzufordern. Die Löhne wurden daraufhin zwar ausgezahlt, aber scheinbar auch einige der Streikenden entlassen.

Quellen: Chan 2012: n.p.; https://chinastrikes.crowdmap.com/reports

* Wachsende Geschlechter-Ungleichheit

Während die allmähliche Lockerung des Aufenthaltsrechts mehr Flexibilität in der Lebensplanung zwischen Stadt und Land ermöglicht, die Arbeitsrechte sich zumindest auf dem Papier zugunsten der Beschäftigten entwickeln, gibt es deutliche Hinweise dafür, dass Frauen nicht nur von dieser Entwicklung profitieren. Zwar lockern sich durch die Möglichkeit eines Lebens als Migrantin unabhängig von familiären Bindungen patriarchale Strukturen (die auch die Mao-Ära überdauert haben), doch sind die Durchschnittseinkommen von Frauen in Stadt und Land niedriger als die von Männern: Das durchschnittliche Jahreseinkommen von Arbeiterinnen liegt nach Angaben von Womenwatch-China (s. Hinweis) bei 67,3% des Durchschnittseinkommens eines Arbeiters, auf dem Land erzielen Frauen sogar nur 56% des entsprechenden männlichen Jahreseinkommens. Eine Erhebung in fünf chinesischen Städten zeigte, dass Frauen ohne lokales Aufenthaltsrecht (hukou) in der Stadt das geringste Einkommen haben und selbst Frauen mit lokalem hukou noch einen niedrigeren Durchschnittsverdienst ausweisen als männliche Migranten (s. Tab. 4). Auch die Veränderungen im Bereich der Landzuteilung für die ländliche Bevölkerung drohen Frauen zu VerliererInnen der Reformen zu machen: Da Landnutzungsrechte zwar Frauen wie Männern gleichermaßen zustehen, in der Regel aber auf den Namen des Mannes registriert werden, können Frauen bei Abtretung oder Verkauf dieser Rechte z.B. an Agrarunternehmen leer ausgehen.

Der kurze Blick auf die Lage der ArbeitsmigrantInnen und die der Frauen in China zeigt, dass dort viel in Bewegung ist – und dass es Gemeinsamkeiten in der sozialen Entwicklung (Lohnentwicklung, gleichberechtigte Teilhabe von Frauen) zwischen China und Deutschland gibt. Die deutsch-chinesischen Partnerschaften hätten also viele Anknüpfungspunkte, um einen sozialen Dialog zu beginnen.

Dr. Sabine Ferenschild ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Südwind-Instituts für Ökonomie und Ökumene.

*) Das Südwind-Institut hat in den letzten zwei Jahren die Schwerpunkte und die Entstehungsgeschichten deutsch-chinesischer Partnerschaften untersucht. Vor dem Hintergrund sehr pauschaler, z.T. sehr abwertender Chinabilder in der deutschen Öffentlichkeit erschien die Wahrnehmung Chinas als Partner als Chance für ein differenzierteres Chinabild. Zugleich sollte mit der Betrachtung der deutsch-chinesischen Partnerschaften ausgelotet werden, inwiefern die Partnerschaften ein Instrument zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten sein können.

Hinweise:
* ACWF (2011): Report on Major Results of the Third Wave Survey on the Social Status of Women in China (http://www.womenwatch-china.org/en/newsdetail.aspx?id=9607).
* Chan, John (2012): Streikausbruch in der Provinz Sichuan, 10.1.2012, http://www.wsws.org/de/2012/jan2012/chin-j10.shtml.
* Sabine Ferenschild/Tobias Schäfer (2012): China in Bewegung. Herausforderungen für deutsch-chinesische Partnerschaften, Siegburg (Bezug: über www.suedwind-institut.de).
* Max Zenglein (2011): Fragmented Minimum Wage System, in: Christoph Scherrer (Hg.): China’s Labor Question, München 2011
* Yu Zhu /Wenzhe Chen (2009): The Settlement Intention of China’s Floating Population in the Cities: Recent Changes and Multifaceted Individual-Level Determinants, in: Population, Space and Place 16 (4): 253-267.

Veröffentlicht: 28.9.2012

Empfohlene Zitierweise:
Sabine Ferenschild, Zwischen Sozialreformen und Überlebenskampf. China in Bewegung, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 28. September 2012 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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