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Botschaft aus Boston: Achtung TTIP!

Artikel-Nr.: DE20141119-Art.39-2014

Botschaft aus Boston: Achtung TTIP!

Die Hoffnung der Europäer sind auf Sand gebaut

Die Europäische Union und die USA verhandeln gegenwärtig über ein umfassendes Freihandelsabkommen, die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), mit der Intention, später weitere Volkswirtschaften einzubinden. Nach Meinung seiner Befürworter wird TTIP Wachstum in Europa und den USA stimulieren. Eine Studie der Universität Boston prognostiziert jetzt das Gegenteil. Eine W&E-Zusammenfassung.

Wie üblich bei Handelsabkommen, wurden die TTIP-Verhandlungen von einer Reihe ökonometrischer Studien begleitet, die mittelfristige Prognosen der wirtschaftlichen Effekte des Abkommens liefern. In der EU stützen sich die Befürworter hauptsächlich auf vier größere Studien, die im Wesentlichen kleine Nettonutzen-Effekte für alle beteiligten Staaten sowie eine allmähliche Verlagerung vom Intra-EU-Handel hin zum transatlantischen Handel prognostizieren. Ganz anders lauten allerdings die Ergebnisse einer Studie von der Universität Boston (s. Hinweis).

● Dynamischer Ansatz

Die jüngere Literatur (TTIP: Die große Fehlkalkulation) zeigt, dass die öffentlichkeitswirksam herausgestellten Studien zu TTIP keine gute Basis für politische Entscheidungen bieten, da sie stark auf ungeeigneten ökonomischen Modellen beruhen. Im Wesentlichen stützen sich ihre Prognosen auf dasselbe statisch-mathematische Allgemeine Gleichgewichtsmodell („Computable General Equilibrium Model“), das sich jedoch als ungeeignet für die Analyse in handelspolitischen Fragen erwiesen hat.

Die neue US-amerikanische Studie bewertet die Effekte von TTIP jedoch mit dem dynamischen „United Nations Global Policy Model“, das sinnvollere Annahmen zu makroökonomischen Anpassungsprozessen, zur Dynamik der Beschäftigungsentwicklung und zum globalen Handel zulässt. Mit Hilfe des „United Nations Policy Model“ werden die Auswirkung von TTIP auf die
globale Wirtschaft im Kontext lang anhaltender Austeritätspolitik und geringem Wachstum in der EU und den USA simuliert.

Die Studie prognostiziert, dass TTIP in der EU zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der persönlichen Einkommen und der Beschäftigung führen wird. Desweiteren wird eine zunehmende Instabilität im Finanzsektor und ein kontinuierlicher Abwärtstrend beim Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit (Lohnquote) vorhergesagt.

Die Evaluierung mit dem UN-Modell lässt für Europa eine wirtschaftliche Desintegration wahrscheinlicher erscheinen als weitere Integration. In jedem Fall zeigt sie, dass alle bisherigen offiziellen Studien keine solide Basis für eine sachlich fundierte Entscheidung über TTIP bieten.



● Die Ergebnisse im Einzelnen

Insgesamt unterscheiden sich die Ergebnisse in der Tat dramatisch von den bisherigen Einschätzungen. Für Europa konstatieren die US-Forscher, dass:

* TTIP zu einem Rückgang bei den Nettoexporten nach zehn Jahren führen würde, verglichen mit dem Basisszenario „Kein TTIP“. Die nordeuropäischen Volkswirtschaften würden die größten Verluste erleiden (2,07% vom BIP), gefolgt von Frankreich (1,9% vom BIP), Deutschland (1,14% vom BIP) und Großbritannien (0,95% vom BIP).

* TTIP zu einem Rückgang beim Netto-BIP führen würde. Passend zu den Zahlen für die Nettoexporte würden die nordeuropäischen Volkswirtschaften die größten BIP-Rückgänge erleiden (-0,5%), gefolgt von Frankreich (-0,48%), Deutschland (-0,29%).

* TTIP zu einem Rückgang der Arbeitseinkommen führen würde, in Frankreich am stärksten mit 5.500 € pro Beschäftigtem im Jahr, gefolgt von den nordeuropäischen Volkswirtschaften (-4.800 € pro Beschäftigtem), Großbritannien (-4.200 € pro Beschäftigtem) und Deutschland (-3.400 € pro Beschäftigtem).

* TTIP zu einem Rückgang von Arbeitsplätzen führen würde. Die Berechnungen ergeben einen ungefähren Rückgang von 600.000 Jobs für die EU. Die nordeuropäischen Staaten wären am meisten betroffen (-223.000 Jobs), gefolgt von Deutschland (-134.000 Jobs), Frankreich (-130.000 Jobs) und den südeuropäischen Staaten (-90.000 Jobs).

* TTIP zu einem Rückgang der Lohnquote führen würde, und damit einen Trend verstärken würde, der zur gegenwärtigen Stagnation beigetragen hat. Die Kehrseite dieses Rückgangs wäre ein Anstieg des Anteils von Gewinnen und Zinserträgen, was bedeutet, dass es einen proportionalen Transfer von Arbeitseinkommen zu Kapitaleinkommen geben würde. Die größten Transfers gäbe es in Großbritannien (7% des BIP transferiert von Arbeits- zu Kapitaleinkommen), Frankreich (8%), Deutschland und Nordeuropa (4%).

* TTIP zu einem Rückgang der Staatseinnahmen führen würde. Der Überschuss der indirekten Steuern (wie Umsatz- oder Mehrwertsteuer) über Subventionen wird in allen EU-Staaten abnehmen, mit Frankreich als größtem Verlierer (0,64% des BIP). Staatsdefizite würden in % vom BIP in jedem EU-Staat zunehmen und damit die öffentlichen Finanzen näher an oder sogar über die Maastricht-Grenzwerte treiben.

* TTIP würde zu größerer Instabilität im Finanzsektor führen und zur Akkumulierung von Ungleichgewichten. Bei sinkenden Exporteinnahmen, Lohnquoten und Staatseinnahmen müsste die Nachfrage allein durch Gewinne und Investitionen getragen werden. Aber mit einem erlahmendem Konsumwachstum ist nicht zu erwarten, dass Gewinne durch wachsende Umsätze entstehen. Eine realistischere Annahme ist, dass Profite und
Investitionen (im Wesentlichen in finanzielle Anlagen) durch steigende Preise für Finanz-Anlagegüter getragen werden. Das Potential für makroökonomische Instabilität durch diese Wachstumsstrategie ist nach der jüngsten Finanzkrise gut bekannt.

● Düstere Aussichten für die EU

Die Botschaft aus Boston birgt düstere Aussichten für die EU-Politiker. Konfrontiert mit höherer Verletzbarkeit durch jede Krise, die aus den USA kommt, und unfähig, einen fiskalischen Wachstumskurs einzuschlagen, hätten sie nur noch wenige Optionen, um die Wirtschaft anzukurbeln: entweder das Wachstum privater Kredite zu fördern mit dem Risiko, finanzielle Ungleichgewichte zu befeuern, oder die Lösung in wettbewerbsbedingten Abwertungen zu suchen oder eine Kombination aus beidem.

Daraus ergeben sich zwei generelle Schlussfolgerungen: Erstens sind die vorhandenen TTIP-Studien (s. auch W&E-Dossier: TTIP - Von wegen Freihandel!) keine geeignete Basis für große Handelsreformen. Und wenn ein tatsächlich realistischeres Modell genutzt wird, ändern sich die Ergebnisse dramatisch. Zweitens ersetzt das Anstreben eines höheren Handelsvolumens keine nachhaltige
Wachstumsstrategie für die EU. In Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Austeritätskurs, hoher Arbeitslosigkeit und niedrigem Wachstum, die alle den Druck auf die Arbeitseinkommen erhöhen, würde dieser Druck die wirtschaftliche Aktivität weiter beeinträchtigen. Stattdessen müsste jede Strategie zur Wiedergewinnung wirtschaftlichen Wachstums in Europa auf einer starken politischen Anstrengung zur Stärkung der Lohnarbeitseinkommen beruhen.

Hinweis:
* Jeronim Capaldo, The Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership: European Disintegration, Unemployment and Instability, Working Paper 14-03, Global Development and Environment Institute, Tufts University: Boston, October 2014. PDF-Download: >>> hier.

Posted: 19.11.2014

Empfohlene Zitierweise:
W&E-Zusammenfassung, Die TTIP-Hoffnungen der Europäer sind trügerisch. Botschaft aus Boston, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, 19. November 2014 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)

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