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Chinas Neue Seidenstraßen

Ein globales Entwicklungsmodell

Chinas Initiative »Neue Seidenstraßen« knüpft an die einstige weltpolitische Bedeutung des »Reichs der Mitte« an und entwirft gleichzeitig einen Bauplan zukünftiger Größe. Durch den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur, Energieversorgung und Wirtschaftskorridoren zwischen Asien, Afrika und Europa soll ein »neues Goldenes Zeitalter der Globalisierung« eingeleitet werden. In seinem neuen Buch „Der lange Marsch 2.0“ (s. Hinweis) untersucht Uwe Hoering die Zukunftsfähigkeit der „Neuen Seidenstraßen“ als Entwicklungsmodell. W&E dokumentiert Auszüge. Auch fünf Jahre nach seinem Start durch Staats- und Parteichef Xi Jinping im Herbst 2013 erweckt das Unterfangen allerdings noch den Eindruck einer riesigen Baustelle: ein Gewirr von Bahnstrecken, Containerhäfen, Terminals, Wirtschaftszonen, neuen Grenzstationen, Pipelines und Fernstraßen, von dem vieles nur auf dem Papier steht. Symbolträchtig war das riesige Modell einer Brücke, das beim Gründungsgipfel aufgestellt war: goldverkleidet und illuminiert verkündete es eine leuchtende Verbindung in die Zukunft – die Auffahrten fehlten allerdings noch.

● Eine riesige Baustelle

Bei „Belt & Road“ (B&R) handelt sich um eine Sammelbezeichnung für ein Konglomerat bereits bestehender, geplanter oder auch nur angedachter Vorhaben, für die die chinesische Regierung noch Partner sucht. Die verschiedenen Landkarten, die zirkulieren, sind dementsprechend eher 
skizzenhaft. Den ganzen Bauplan kennen bislang bestenfalls die chinesischen Architekten. Wie beim Go-Spiel besetzen sie strategische Punkte, die sich zu Festungen ausbauen lassen oder durch die die Gegenspieler eingekreist oder abgelenkt werden, damit sie keine eigenen Strategien entwickeln können.


Auch die offiziellen Erläuterungen und Dokumente sind oft wolkig. Sie beschränken sich auf einige kurze Visionspapiere und Aktionspläne. Erst im März 2015 legte die zentrale Planungsbehörde, die National Development and Reform Commission, einen etwa 15-seitigen „Aktionsplan“ vor, der aber sehr allgemein und voller Versprechungen über die wechselseitigen Vorteile und eine gleichberechtigte, offene Partnerschaft bleibt. Umso intensiver ist die offizielle Werbetrommelei bei Konferenzen, Regierungstreffen und in den staatlichen Verlautbarungsorganen. Geradezu unüberschaubar sind auch die Debatten in wissenschaftlichen Kreisen, auf Tagungen, in Medien, 
Wirtschaftsforen und politischen Diskussionen.

● „Neues Goldenes Zeitalter der Globalisierung“

Die offizielle Version der chinesischen Regierung, die an eine Idealvorstellung der historischen Seidenstraßen anknüpft und auch von zahlreichen beteiligten Regierungen und Beobachtern aufgenommen wird, setzt dem westlichen Entwicklungsdiskurs ein eigenes Paradigma entgegen. Erklärte Ziele sind Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Stabilität durch Konnektivität und proaktive staatliche Unterstützung. Konnektivität meint dabei nicht nur materielle Infrastruktur und Handel, sondern auch politische Zusammenarbeit, Finanzsysteme und »Kontakte zwischen Menschen«. Als Antwort auf die »schwache Erholung der globalen Wirtschaft und eine komplexe internationale Situation« nach den Krisen des zurückliegenden Jahrzehnts werde China der internationalen Gemeinschaft mehr öffentliche Güter wie Infrastruktur zur Verfügung stellen, verkündete Xi Jinping sendungsbewusst. Das »neue Goldene Zeitalter der Globalisierung« werde sich von der bisherigen neoliberalen Globalisierung unterscheiden. Verknüpft ist dieses Narrativ mit einer zunehmend nationalistischen Konnotation, der Wiedergutmachung der Demütigungen Chinas durch die Kolonialmächte und der Wiederherstellung 
seiner früheren Bedeutung, als sich das Kaiserreich als Zentrum der Welt betrachtete.


Dieses offizielle Narrativ »vermittelt ein romantisches Bild von Chinas sich verändernder Position in der Welt«, meint Xin Zhang von der East China Normal University in Schanghai (2016). Betont werden der Geist und das Vermächtnis der historischen Seidenstraßen – Verbundenheit, Zusammenarbeit auf vielen Ebenen, eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen, Verantwortung und Schicksal, verbunden durch die Hoffnung, dass moderne Konnektivität und Handelswege die herkömmliche Machtkonkurrenz 
ersetzen können. Eine gemeinsame Entwicklung würde allen Beteiligten in einer offenen und inklusiven Weise nützen. Vor allem westliche Beobachter weisen dann gerne auf eine entscheidende Leerstelle des Paradigmas hin: Ausgehend vom Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten fehlen Verweise auf Ziele wie Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte, institutionelle, rechtliche und politische Reformen.

● Expansion oder inklusive Kooperation?

Ein zweiter Erklärungsansatz fokussiert auf die wirtschaftlichen Eigeninteressen Chinas. Beschleunigt durch die Finanzkrise 2007/2008 stellt danach die Seidenstraßen-Initiative einen Versuch dar, vor allem die eigene strukturelle Wachstumskrise, die sich in Überkapazitäten und sinkenden Wachstumsraten zeigt, durch weitere wirtschaftliche Expansion und Modernisierung zu lösen. Für Xin Zhang (2017) ist B&R sogar die unvermeidbare Expansion eines »Staatskapitalismus«, angetrieben von Verwertungs- und Akkumulationszwang und dem Streben nach geoökonomischer Hegemonie, dem Ausbau der wirtschaftlichen Vormachtstellung Chinas in der Welt.


Das dritte Narrativ stellt geopolitische Intentionen in den Mittelpunkt. Diese liegen als Antwort auf eine mögliche Einhegung Chinas durch die USA und die Sorge um die Sicherheit seiner internationalen Versorgungswege nahe, werden im offiziellen Narrativ jedoch stets abgestritten. Das befürchtete Spektrum möglicher geopolitischer Auswirkungen reicht von der Entstehung von Vasallenstaaten und einem neuen Kolonialismus bis hin zur drohenden Erosion der westlich dominierten Weltordnung und Chinas Aufstieg zur alles beherrschenden Hegemonialmacht. Mit diesen Verschiebungen im internationalen politischen Machtgefüge werden unterschiedliche Konfliktszenarien verknüpft, einschließlich einer wachsenden Gefahr militärischer Konfrontationen. Auf einer Pressekonferenz im März 2015 erklärte hingegen Außenminister Wang Yi: B&R »ist ein Produkt inklusiver Zusammenarbeit, kein geopolitisches Werkzeug, und sollte nicht unter dem Blickwinkel einer überholten Mentalität des Kalten Krieges gesehen werden«.

● Baustellen auf den Seidenstraßen

Der Stein, den Xi Jinping vor fünf Jahren ins Wasser geworfen hat, zieht seither immer größere Kreise. In der breiten und vielschichtigen Diskussion kristallisiert sich inzwischen eine Vielzahl von Themenbereichen und Problemfeldern heraus, die durch die Initiative aufgemacht werden. Sie weisen weit über die gängige Vorstellung hinaus, bei B&R würde es in erster Linie um ein Infrastrukturprojekt und um Absatzmärkte und Handel gehen.
Kapitel 2 greift die zentrale Frage nach den internen Motivationen und Triebkräften auf. Viele Debattenbeiträge verweisen auf die Notwendigkeit für den Staat, negative Auswirkungen des chinesischen Entwicklungsmodells und seiner Strukturprobleme anzugehen. Aber auch innenpolitische Kalküle wie die 
Herrschaftssicherung und Legitimierung von Partei und Staat und das Bestreben, die Demütigungen durch die Kolonialmächte im 19. Jahrhundert wett zu machen, spielen eine zentrale Rolle. Im Unterschied zum katastrophal gescheiterten »Großen Sprung vorwärts«, als unter Mao Zedong in einem gewaltigen Kraftakt ab 1958 die Umwandlung einer Bauern- zu einer Industriegesellschaft erzwungen und der Übergang zum Kommunismus abgekürzt werden sollte, stellt die Initiative jetzt einen »Langen Marsch« dar, eine geplante und integrierte Ausweitung des »Sozialismus mit chinesischen Merkmalen«. Damit unterscheidet sie sich in ihrer Strategie von Mao Zedong, nicht aber in ihren Zielen: nationale Souveränität, territoriale Integrität und der Aufbau einer starken und wohlhabenden Nation, die ihren rechtmäßigen Platz als Großmacht auf der internationalen Bühne einnimmt.
Ein Kernelement der neuen Seidenstraßen ist die Infrastrukturentwicklung (Kapitel 3). Hier geht es zum einen um das Angebot an andere Regierungen und Länder, das Infrastrukturdefizit mit viel Geld zu verringern und Konnektivität als Voraussetzung für Investitionen, Wachstum und Wohlstand zu verbessern. Durch den Aufbau von Megakorridoren entstehen neue Räume der Globalisierung und wirtschaftliche Geografien, die durch die Kontrolle über wichtige Versorgungswege zu einem »Infrastruktur-Imperium« führen können. Alle Erfahrungen zeigen, dass in großen Infrastrukturprojekten zahlreiche soziale und ökologische Risiken stecken, die auch in B&R systemisch angelegt sind. Bei der maritimen Seidenstraße (Kapitel 7) liegt zusätzlich ein Schwerpunkt auf der Frage, ob damit eine Ausweitung der militärischen Präsenz Chinas in Regionen wie dem Indischen Ozean erfolgt.

● Kooperations- und Konfliktpartner

Anders als im eigenen Land ist die chinesische Regierung auf die wohlwollende Zusammenarbeit mit anderen Ländern und Regionalmächten angewiesen. Entscheidend wird daher sein, wie sich Russland, das selbst hegemoniale Ansprüche in Osteuropa und Zentralasien verfolgt (Kapitel 4), Indien, das sich als Vormacht im Indischen Ozean und in Südasien begreift (Kapitel 8), und Europa (Kapitel 10) zur chinesischen Initiative verhalten. Sind sie Konkurrenten, gar Gegner oder Partner? Eine besondere Situation bietet sich in Südostasien (Kapitel 6), wo China wirtschaftlich bereits dominiert, territoriale Ansprüche im Südchinesischen Meer verfolgt und unter anderem deshalb auch auf Konfliktkurs mit Anrainerstaaten ist.
Neben dem Bestreben, durch die neuen Seidenstraßen neue Märkte und Investitionsstandorte für die chinesische Industrie zu erschließen, spielt die Versorgung mit Rohstoffen eine Schlüsselrolle (Kapitel 5) – und damit die Frage, ob die neuen Seidenstraßen als weiterer Motor für das fossile Wachstumsmodell wirken oder aber den Einstieg in eine Energiewende oder gar eine »ökologische Zivilisation« einleiten werden, wie die Initiatoren gerne verkünden.
Eher am Rande der Seidenstraßen liegt Afrika, das als Lieferant von Erdöl und anderen Rohstoffen und als Kunde für Infrastrukturprojekte und preiswerte Konsumgüter Chinas Aufstieg mit gefördert hat. Eine eigenständige Entwicklung wurde damit allerdings nicht angeschoben. Mit Xi Jinpings Amtsantritt zeichnet sich jetzt eine Neubestimmung der Strategie Chinas in Afrika ab, mit ersten Auswirkungen vor allem in Ostafrika (Kapitel 9).
Die Expansion der Wirtschaftsmacht China durch B&R ist verbunden mit einem wachsenden politischen Einfluss auf Regierungen und verstärkter Konkurrenz mit anderen Hegemonialmächten. Mit einer selbstbewussteren, aktiveren Außenpolitik geht eine militärische Aufrüstung einher. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die Konstellationen einer multipolaren Weltordnung. Manche warnen davor, dass China die globale Hegemonie, gar ein neues Imperium anstrebt, während Peking selbst ausgewogene »Großmachtbeziehungen neuen Typs« anbietet (Kapitel 11; s. auch vorstehenden Artikel in dieser Ausgabe).

Hinweis:

* Uwe Hoering: Der Lange Marsch 2.0. Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell, 157 S., VSA-Verlag: Hamburg 2018. Bezug: Buchhandel
(Posted: 3 September 2018)