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Prinzipien für eine Reform des Finanzsystems

Artikel-Nr.: DE20081107-Art.42-2008

Prinzipien für eine Reform des Finanzsystems

Für einen neuen Globalen Wirtschaftsvertrag

Web-Langfassung – Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaft, ehemaliger Chefökonom der Weltbank und Professor an der Columbia-Universität, ist zum Leiter einer Hochrangigen Task Force der Vereinten Nationen ernannt worden, die das globale Finanzsystem untersuchen soll. In den folgenden Punkten hat Joseph Stiglitz seine persönliche Position (und die der Initiative for Policy Dialogue) zu Kernelementen einer Antwort auf die gegenwärtige globale Finanzkrise zusammengefasst.1. Die gegenwärtige Finanzkrise, die in den USA entstanden und von dort nach Europa übergeschwappt ist, hat jetzt die ganze Welt erfasst. Auch Schwellenländer und weniger entwickelte Länder, die ihre Volkswirtschaften gut führten, fragwürdigen Kreditpraktiken widerstanden, hohe Fremdwährungsreserven hielten, keine toxischen Hypothekenpapiere kauften und es nicht zuließen, dass sich ihre Banken an hoch riskanten Derivatgeschäften beteiligten, werden wahrscheinlich in den Sog der Krise geraten und ihre Folgen zu spüren bekommen. Jede globale Lösung – kurzfristige Maßnahmen zur Stabilisierung der aktuellen Situation ebenso wie langfristige Maßnahmen, die eine Wiederholung der Krise verhindern sollen – muss den Auswirkungen auf diese Länder gebührend Rechnung tragen. Geschieht dies nicht, kann die globale wirtschaftliche Stabilität nicht wieder hergestellt werden, und auch Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung werden weltweit in Gefahr geraten.

2. Die aktuelle Wirtschaftskrise bietet die Chance, die globalen Wirtschaftsarrangements und die vorherrschende Wirtschaftsdoktrin einer Neubewertung zu unterziehen. Die Weltwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert, man denke nur an die Quellen der globalen Ersparnisse, Reserven und das BIP. Diese Veränderungen spiegeln sich jedoch nur ungenügend in den globalen Wirtschaftsinstitutionen und den wirtschaftlichen Beziehungen wider. Wir sollten die Bewältigung dieser Krise für tiefgreifende Reformen nutzen – Reformen, die es der Welt ermöglichen, das 21. Jahrhundert mit einem gerechteren und stabileren Weltfinanzsystem zu beginnen und eine Ära des steigenden Wohlstands für alle Länder einzuläuten.

* Entwicklungsländer im Nachteil

3.
In der Vergangenheit hat das globale Finanzsystem den Entwicklungsländern häufig Nachteile gebracht. So wurden Banken in den entwickelten Ländern dazu ermutigt, den Entwicklungsländern kurzfristige Kredite zu gewähren. Das sorgte zwar in Ersteren für mehr Liquidität, in Letzteren jedoch verschärfte es die Instabilität. Den Entwicklungsländern wurde eine prozyklische Geld- und Ausgabenpolitik aufgezwungen, während die entwickelten Länder antizyklisch handelten. Die internationale Gemeinschaft muss sich für eine Entwicklung der Institutionen und Instrumente einsetzen, die die Stabilität und Gerechtigkeit des globalen Finanzsystems stärken.

4. Genau wie die aktuellen Probleme in den hoch entwickelten Ländern unter anderem auf Governance-Schwächen zurückzuführen sind (Corporate Governance-Strukturen, die zu intransparenten Vergütungssystemen geführt haben, die wiederum schlechte Rechnungslegungspraktiken förderten), ist die Unfähigkeit, ein stabiles und gerechtes System aufzubauen, ein lang bekanntes Problem der Global Governance, in der Schwellenländer und weniger entwickelte Länder kaum oder überhaupt nicht repräsentiert sind. Die Governance der internationalen Wirtschaftsinstitutionen und Standardisierungsgremien, wie zum Beispiel des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht, muss reformiert werden. Die bereits erfolgten Reformen, zum Beispiel der IWF-Governance, waren unzureichend. Solange nicht wesentliche grundlegende Reformen umgesetzt werden, können diese Institutionen nicht die ihnen zukommende Rolle spielen. Selbstverständlich sind Diskussionen in informellen Gruppierungen ein wesentlicher Bestandteil der globalen Konsensfindung zu wichtigen und komplexen Fragen, dennoch muss die eigentliche Entscheidung in denjenigen internationalen Institutionen getroffen werden, die über die notwendige politische Legitimation verfügen und in denen sowohl Länder mit mittlerem Einkommen als auch die am wenigsten entwickelten Länder vertreten sind. Die einzige Institution, die heute breit legitimiert ist, ist die UNO. Historisch hat die UNO eine zentrale Rolle gespielt, zum Beispiel, als sie die United Nations' Monetary and Financial Conference in Bretton Woods einberief, aus der dann die Bretton-Woods-Institutionen hervorgegangen sind. Aber seit dieser Konferenz vor 64 Jahren hat sich die Welt verändert. Wir befinden uns jetzt erneut an einem „Bretton-Woods-Punkt“.

* IWF/Weltbank und die sich selbst regulierenden Märkte: Bis dass der Tod euch scheidet

5.
Die Lösung der Probleme, die die globale Finanzkrise mit sich gebracht hat, erfordert ein hohes Maß an Fachwissen, so wie es in Spezialinstitutionen wie IWF oder Weltbank zu finden ist. Aber in der Vergangenheit waren diese Institutionen zu eng mit einer bestimmten Wirtschaftsdoktrin verbunden – einer Doktrin, die davon ausgegangen ist, dass sich die Märkte selbst regulieren. Stimmen, die auf die Risiken der in den letzten Jahren in den Industrieländern vorherrschenden Politik hinwiesen, wurden weitgehend ignoriert. Diese und andere internationale Wirtschaftsorganisationen haben den Entwicklungsländern häufig die Liberalisierung der Kapital- und Finanzmärkte aufoktroyiert, jedoch ohne den versprochenen Erfolg: Nicht die Wirtschaft ist gewachsen, sondern die Instabilität. Die systematische Unterstützung einer prozyklischen makroökonomischen Politik in den Entwicklungsländern, während die entwickelten Länder weiter eine antizyklische Politik verfolgen, schadet nicht nur den Entwicklungsländern, sondern trägt auch zur globalen Instabilität bei.

6. Jede wirtschaftspolitische Maßnahme hat enorme Konsequenzen für die Verteilung, die die Politik genau im Auge behalten muss. Was gut für die Finanzmärkte ist, ist nicht unbedingt gut für die Wirtschaft als Ganzes. Da aber die internationalen Finanzinstitutionen so eng mit den Finanzmärkten verwoben sind (über die Finanzminister und Zentralbankchefs in den Aufsichtsgremien), reflektieren sie zwangsläufig die Interessen und Perspektiven der Akteure der Finanzmärkte. Diese Probleme werden durch die Interessenskonflikte noch verstärkt, die sich zum Beispiel aus dem „Drehtüreffekt“ ergeben. Die Glaubwürdigkeit, Legitimation und Effektivität dieser Institutionen kann nur durch Vertrauensbildung zurückerlangt werden, das bedeutet, dass den allgemein anerkannten Prinzipien der demokratischen Governance wesentlich mehr Bedeutung zugemessen werden muss.

7. In der gegenwärtigen Krise müssen die hoch entwickelten Länder die Tatsache anerkennen, dass die wirtschaftliche Position der entwickelten und der Entwicklungsländer keineswegs symmetrisch ist. Identische Maßnahmen können in den entwickelten und in den Entwicklungsländern durchaus komplett unterschiedliche Konsequenzen haben. So genießen unter Umständen Regierungsgarantien in Entwicklungsländern nicht dieselbe Glaubwürdigkeit wie die in Industrieländern, was Kapitalabflüsse aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer zur Folge haben kann.

* Eine neue internationale Finanzorganisation

8.
Die Schaffung einer neuen internationalen Finanzorganisation ist anzuraten. Finanziert werden könnte eine solche Organisation insbesondere von Ländern mit hohen Reserven, zum Beispiel China, Japan und einige ölexportierende Länder. Eine Aufgabe einer solchen Organisation wäre es, den Entwicklungs- und Schwellenländern bei der Finanzierung von Garantien für die Schulden ihrer Unternehmen zu helfen, um einen Run auf diese Unternehmen zu verhindern. Bei Bedarf könnten auch Garantien für Handelskredite finanziert werden, die über Banken in den Entwicklungsländern abgewickelt werden. Eine solche Institution hätte eine vollständig andere Governance-Struktur als die bestehenden globalen Finanzinstitutionen: Sie würde die neuen Quellen der globalen Mittel reflektieren und auch den Schwellenländern und den Entwicklungsländern eine deutliche Stimme verleihen. Die Fazilitäten des IWF, die Entwicklungsländer für die Verschlechterung der Terms of Trade zu entschädigen, müssen wesentlich erweitert werden und die Konditionalität muss massiv reduziert oder komplett aufgegeben werden.

9. Alle Länder, aber insbesondere die Industrieländer, in denen die Krise ausgelöst wurde, müssen dringend über die Reform ihres Regulierungsrahmens nachdenken. Selbstregulierung ist eindeutig nicht ausreichend, ebenso wenig wie verbesserte Transparenz oder schärfere Offenlegungsstandards. Besondere Aufmerksamkeit verlangen die Bereiche Anreize und Vergütung, Reduzierung potenzieller Interessenskonflikte, antizyklische Beschränkung der Fremdfinanzierung und die Einführung einer „Geschwindigkeitsbeschränkung“. Weitere Reformen müssen sich mit breiteren sozialen und wirtschaftlichen Fragen befassen. Wettbewerb ist das Herzstück einer erfolgreichen Marktwirtschaft, aber die Durchsetzung von Kartellgesetzen war bisher ungenügend und zu lasch. Finanzinstitutionen sind so groß geworden, dass man sie nicht mehr untergehen lassen kann. Regulierung muss auch Fragen des Verbraucherschutzes und des Zugangs aller gesellschaftlichen Gruppen zu den Finanzmärkten ansprechen. Reformen mit Schwerpunkt auf Sicherheit und Solidität sind besonders wichtig im Kern der nationalen Finanzsysteme – den Geschäftsbanken und all denen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Ein angemessener Schutzwall muss sie von anderen, weniger stark regulierten Institutionen trennen. Jede Regulierung muss so umfassend sein, dass es nicht zu Regulierungsarbitrage kommt, die hohe systemische Risiken birgt. Auf nationaler und internationaler Ebene kann ein „Finanzprodukte-TÜV“ die Sicherheit neuer Produkte und deren Angemessenheit für bestimmte Gruppen prüfen. Nationale und internationale Ausschüsse können die systemische Stabilität bewerten. Rundum reformiert kann das Forum für Finanzstabilität (Financial Stability Forum) zu einem globalen Gremium werden, das für die Bewertung systemischer Risiken zuständig ist. Auch die Schaffung einer globalen Finanzaufsicht, die die koordinierte Regulierung aller Finanzzentren, auch der Offshore-Zentren, sicherstellt, sollte unbedingt diskutiert werden.

* Ein neues Mandat für Zentralbanken und Regulierungsbehörden

10.
Die Zentralbanken müssen ihr Mandat überdenken angesichts der Erkenntnis, dass Preisstabilität nicht ausreicht, um wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand zu erhalten. Im Gegenteil: Die übermäßige Fokussierung auf Preisstabilität kann zu einer Verlangsamung und einer Destabilisierung des Wachstums beitragen. Daher muss stärker auf die Stabilität des Finanzsystems und dessen Interaktion mit makroökonomischen Trends geachtet werden.

11. Gute Regulierung allein genügt nicht – die Regulierung muss auch durchgesetzt werden. Effiziente Regulierungsinstitutionen sind gegenüber Sonderinteressen immun, und in ihnen sind diejenigen, die am meisten unter einem Kollaps leiden würden, adäquat vertreten.

12. Die Formulierung regulatorischer Standards und makroökonomischer Politik bedarf einer stärkeren internationalen Kooperation. Wechselkursschwankungen haben sich besonders negativ auf die Entwicklungsländer ausgewirkt und Reformen, wie die Schaffung eines weltweiten Reservesystems, das die Reduzierung dieser Instabilitäten verspricht, sind dringend zu diskutieren. Noch einmal: Wir dürfen uns weder auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Branche noch auf die Risikobewertung der Finanzinstitutionen und der Rating-Agenturen verlassen.

13. Finanzinstitutionen in Ländern, die solche internationalen Standards nicht übernehmen, muss der Zugang zum Handel mit gut regulierten Wirtschaften verweigert werden. Insbesondere muss anerkannt werden, dass das Bankgeheimnis nicht nur potenziell der Finanzierung von Terrorismus Tür und Tor öffnet, sondern auch Steuerflucht, Drogenhandel, Geldwäsche und Korruption begünstigt – was speziell den Entwicklungsländern schaden kann.

14. Langfristige Reformen, die die Stabilität und Gerechtigkeit des globalen Finanzsystems verbessern, sind erforderlich. Dazu gehören Reformen des globalen Reservesystems, ein unabhängiger Umschuldungsmechanismus, die Schaffung einer globalen Finanzregulierungsgremiums und die weitere Entwicklung von Anleihemärkten in lokalen Währungen.

15. Zwar ist unter Umständen eine verstärkte Überwachung („Surveillance“) notwendig, aber die gegenwärtige Surveillancepraxis steht bereits vor zwei Problemen: Erstens konzentriert sie sich zu stark auf eine niedrige Inflationsrate, die oft mit einer guten makroökonomischen Leistung gleichgesetzt wird. Zweitens hat die derzeitige Surveillance kaum Auswirkungen auf die USA und andere hoch industrialisierten Länder – die Verursacher der aktuellen Verwerfungen. Künftige Surveillancekonzepte sollten neben der Inflation zumindest auch Indikatoren wie Beschäftigungsquoten und Stabilität des Finanzwesens beachten und dabei nicht nur vom IWF getragen werden, sondern auch von anderen internationalen Organisationen, wie zum Beispiel der ILO.

16. Vor zehn Jahren, während der Finanzkrise in Asien, wurde viel über die notwendige Reform der globalen Finanzarchitektur geredet. Wenig, zu wenig, wie wir jetzt wissen, wurde getan. Es ist daher unerlässlich, dass wir nicht nur angemessen auf die aktuelle Krise reagieren, sondern dass wir langfristige Reformen einleiten. Nur so können wir eine stabilere und wachsende Weltwirtschaft erreichen. Wir müssen versuchen, künftige globale Krisen zu vermeiden.

* Eine führende Rolle für die Vereinten Nationen

17.
Die UN-Generalversammlung muss zusammen mit dem UN-Wirtschaft- und Sozialrat (ECOSOC) und anderen Mitgliedern der UN-Familie, zum Beispiel der ILO, beim Monitoring der multilateralen Finanzinstitutionen und –gremien und deren Governance, Entscheidungen und Konsequenzen eine führende Rolle übernehmen. Dazu gehört auch die Bewertung weiter gefasster sozialer und wirtschaftlicher Indikatoren, einschließlich Wachstum, Arbeitslosigkeit und Armut. Dies erfordert jedoch eine Reform der Beziehung zwischen der UN-Vollversammlung und den Bretton-Woods-Institutionen und den Regulierungsgremien, die sicherstellt, dass Letztere gegenüber der internationalen Gemeinschaft rechenschaftspflichtig sind.

18. Die Doha Review Conference on Financing for Development (2. Konferenz über Entwicklungsfinanzierung) bietet eine Gelegenheit, die Lösung sowohl institutioneller, das heißt auch Governance-bezogener, als auch inhaltlicher Fragen voranzutreiben.

19. Während der jüngsten Generalversammlung forderten zahlreiche Staats- und Regierungschefs die Vereinten Nationen auf, den Reformprozess des internationalen Geld- und Finanzsystems anzuführen. Schon vorher und seitdem haben andere, zum Beispiel das Commonwealth, dringend einen solchen Reformprozess angemahnt – was viele einen „neuen Bretton-Woods-Moment“ nennen. Bis es im Juli 1944 zur letzten United Nations Conference on Monetary and Financial Affairs in Bretton Woods, New Hampshire, kam, mussten 15 Jahre globale Finanzkrise und ein Weltkrieg vergehen. Die jüngste Krise ist eingetreten und nicht mehr rückgängig zu machen, umso dringlicher muss sich jetzt die internationale Gemeinschaft zusammensetzen, um die Schäden einzudämmen und den unvermeidlichen Abschwung aufzuhalten. Während wir das tun, dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: unsere Verpflichtung, künftig solche verheerenden Krisen zu vermeiden und ein internationales Geld- und Finanzsystem aufzubauen, das eine nachhaltige und gerechte Entwicklung gewährleistet.

Hinweis:
* Dieser Text lag der Rede von Joseph Stiglitz vor dem UN-Panel zur globalen Finanzkrise am 30. Oktober 2008 in New York zugrunde (UN-Panel: Zeit für ein neues Bretton Woods).

Veröffentlicht: 7.11.2008

Empfohlene Zitierweise: Joseph Stiglitz, Prinzipien für eine Reform des Finanzsystems. Für einen neuen globalen Wirtschaftsvertrag, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Luxemburg, W&E 11/November 2008 (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org)